Im Ehapa-Forum hat sich aus diesem Thread eine Diskussion um die beiden klassischen belgischen Comic-Traditionen (siehe Thread-Titel) entsponnen, die mir nun hier einen eigenen Thread wert erscheinen.
1938 wurde das Magazin Spirou (Dupuis) gegründet, 1946 folgte das Magazin Tintin (Lombard), 1959 schliesslich das Magazin Pilote (Asterix, Dargaud). Aus der Konkurrenzsituation dieser drei grossen franco-belgischen Magazin-Klassiker entstand eine für das Medium bedeutende eigenständige Comicproduktion (Näheres dazu unter den Stichworten Spirou, vor allem aber Tintin und Pilote in der Wikipedia).
Diese Comickultur beruht auf den beiden Grundströmungen Ligne Claire (Tintin) und École Marcinelle (Spirou), die ursprünglich eng mit den jeweiligen Magazinen verbunden sind.
Dadurch ergibt sich, warum das jüngste der grossen drei Magazine, Pilote, in dieser 'Stil-Kunde' keine grundlegende Bedeutung hat: Erst Ende der fünfziger Jahre gegründet, rekrutierte Pilote Zeichner und Autoren, die vorher bei Tintin und/oder Spirou gearbeitet hatten (oder bei den Zeichnern und Autoren dieser beiden Magazine 'in die Lehre' gegangen waren, in deren Studios gearbeitet hatten o.ä.). So liefen in Pilote also bereits beide Strömungen zusammen, was möglicherweise eine Ursache dafür war, dass Pilote im Vergleich der grossen drei das innovativste, jüngste, frechste, frischeste Magazin war.Zitat von Andreas C. Knigge in: Comics - Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer, rororo 6519, S. 196
Die Ligne Claire ist ein Begriff, der 1976 von dem Holländer Joost Swarte (siehe COMIXENE 74/75) eingeführt wurde und den Stil des Tintin-Schöpfers Hergé beschreibt. Typische Stil-Merkmale sind funktionale, präzise Konturlinien, monochrome, flächige Farbgebung und der weitgehende, wenn nicht gar völlige Verzicht auf Straffuren, Farbverläufe, Schatten, Raster o.ä. Diese formale, zeichnerische Klarheit hat seine Entsprechung in der Art der Erzählung, die ebenso gradlinig, funktional, schnörkellos erfolgt. Hergé hatte bei dem nach seiner Erfolgsserie Tintin (Tim und Struppi) benannten Magazin die Position des 'künstlerischen Leiters' und gründete 1950 das 'Studio Hergé'. Dadurch hat er eine Reihe von Künstlern (Bob de Moor, Jacques Martin, Roger Leloup, E.P. Jacobs, u.v.m.) massgeblich beeinflusst. Ende der 70er Jahre, als die 'Stilvermischung' mit der 'École Marcinelle' längst vorangeschritten war, kehrten eine Reihe von jungen Künstlern (Swarte (s.o.), Yves Challand, u.a.) zu Hergés 'reiner Lehre' zurück und bescherten dem Stil als 'Nouvelle ligne claire' eine Renaissance. - Es hat den Anschein, als ob nicht nur der Begriff Ligne Claire, sondern auch seine Definition erst im Zuge dieser Renaissance entstanden und erst die (rückblickende) Betrachtung führte zur Formulierung der Stilmerkmale, die dann -nun postuliert- bei der 'Nouvelle ligne claire' strenger und konsequenter beachtet und angewandt wurden als seinerzeit von Hergé selbst und seinen Mitarbeitern. Die inzwischen aufgekommene Sekundär-Beschäftigung mit dem Medium mag dabei möglicherweise auch eine Rolle gespielt haben.
Interessant bei dem Versuch, beiden Zeichentraditionen in der Sekundärliteratur nachzuspüren, ist die Tatsache, dass die École Marcinelle im Ggs. zur Ligne Claire in dem französischen Standardwerk schlechthin, Gaumers und Moliternis Dictionnaire mondiale de la Bande Dessinée, keinen eigenen Stichwort-Eintrag hat. Auch sonst wird der Begriff 'École Marcinelle' in vielen Sekundär-Texten verwendet, dabei aber kaum erklärt. Im Gegenteil finden sich zum Teil wiedersprüchliche Aussagen. Das beginnt schon damit, dass der Ursprung des Begriffs -im Ggs. zu dem der 'ligne claire'- (mir) nicht bekannt ist: Keine Jahreszahl, kein 'Analog-Swarte' war zu finden. Da der Begriff aber in den meisten Fällen seiner Verwendung als Gegenbegriff zur ligne claire auftaucht, liegt die Vermutung nahe, dass er irgendwann nach 1976 eben als solcher aufkam (wie wir noch im Folgenden sehen werden, stimmt diese 'Gegenbegrifflichkeit' streng genommen so allerdings nicht). Aus den -wie bereits erwähnt teilweise widersprüchlichen- Aussagen zur École Marcinelle lässt sich das folgende Bild herauskristalisieren: 'Urvater' der École Marcinelle war -analog zu Hergé- Jijé, der bei Spirou seit der Übernahme der Titelserie zum 'massgeblichen' Zeichner wurde. Jijé leitete nach dem zweiten Weltkrieg die jungen Spirou-Zeichner zwar an, liess ihnen aber die Freiheit, ja ermutigte sie sogar dazu, ihren eigenen Stil zu entwickeln. Ein 'ästhetisches Dogma' wie bei Tintin unter Hergé gab es also bei Spirou unter Jijé nicht. Zwar lassen sich durchaus stilistische Ähnlichkeiten bei den Arbeiten von zB Peyo, Franquin, Will und Tillieux ausmachen, deren Ursache dürften aber wohl eher in der Zusammenarbeit der Zeichner bzw. ihrer teilweise auch räumlichen Nähe (auch während der Arbeit) zueinander liegen. Anzumerken ist noch, dass die Entwicklung eigener, individueller Stile der einzelnen Künstler sich nicht nur auf die Zeichnungen beschränkte, sondern auch auf die Erzählweise erstreckte.
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Ligne Claire einen mehr oder weniger klar definierten Stil beschreibt, während die École Marcinelle eine Schule bezeichnet, deren 'Lernziel' die Entwicklung eines eigenen Stils ist. Beides als Gegenbegriff zueinander zu verwenden, ist also im Grunde nicht wirklich korrekt (zur Verdeutlichung: Das wäre, als würde man einen einzelnen, bestimmten Baum -wie zB eine Eiche- als Gegenbegriff zu dem Wort 'Mischwald' verwenden).
Soweit meine 'auf die Schnelle' gewonnenen Recherche-Ergebnisse in aller Kürze (naja, relativ). Sicherlich ist dabei das ein- oder andere in der Verkürzung nur 'halbwahr' geraten, aber das Ganze ist auch weniger als 'Festschreibung' gedacht, als mehr zur Diskussionsgrundlage. Interessante Ergänzungen erhoffe ich dabei zum Beispiel(!) von Hergé-Spezialisten in Bezug auf die Frage, ob und wenn ja in wieweit dessen von mir in aller Vorsicht apostrophierte 'reine Lehre' tatsächlich von ihm wie dogmatisch festgeschrieben, formuliert, angewandt und von (Studio-)Mitarbeitern (und 'nur Magazin-Weggefährten') gefordert wurde.
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