REZENSION: "Kinder- und Jugendzeitschriften" von Thomas Kramer
in: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur SBZ/DDR. Von 1945 bis 1990
Rüdiger Steinlein/Heidi Strobel/Thomas Kramer (Hrsg.)
Im Rahmen des 800seitigen wissenschaftlichen Werkes, das sich zu Aufgabe gestellt hat, "...einen Gesamtüberblick über das Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur in der SBZ/DDR [zu] ermöglichen und durch seine bibliographischen Teile zudem eine verläßliche bio-bibliographische Grundlage für die weitere Forschung bereit[zu]stellen..." befasst sich Dr. Thomas Kramer, bekannt durch seine drei Sekundärliteraturstandards über das Mosaik, mit den Kinder- und Jugendzeitschriften, die in der DDR erschienen.
Keine Frage, ein Gebiet abzuhandeln, das aus grob geschätzen 6.000 Einzeltiteln besteht, ist eine Herausforderung, die vermutlich für einen einzelnen Autor wie auch auf 18 Seiten nicht zu bewerkstelligen ist. Gelungen ist die Erwähnung der wichtigsten Zeitschriften sowie ihre inhaltliche Differenzierung, da ist Kramers Schlussfolgerungen zuzustimmen. So war z.B. die TROMMEL zweifellos das Blatt mit der stärksten ideologischen Ausrichtung, sprach sie doch jene Altersgruppe an, die als nächstes in die FDJ rekrutiert werden sollte. Interessant sind die Quervebindungen zwischen damals aktuellen politischen Entwicklungen (hier: Annäherung an Indien) und entsprechenden Beiträgen in den Kinderzeitschriften.
Das Mosaik, des Autors liebstes Steckenpferd, bekommt auf drei Seiten des knappen Platzes ein eigenes Unterkapitel eingeräumt (Spalte 949). Angesichts von Auflagenhöhe und Popularität sicher angemessen, führt er jedoch viel stärker (und viel positiver) inhaltlich über das Heft aus als bei den anderen Zeitschriften. Das darauf folgende Kapitel (Sp. 955) ordnet treffsicher die rassistisch-stereotypen Darstellungen von Farbigen in Mosaik, Atze und Frösi, die heute politisch völlig unkorrekt wären, in den Zeitgeist der 60er Jahre ein und findet an dieser Stelle noch etwas Wohlwollen.
In den drei folgenden Kapiteln wird in einer Ausführlichkeit über die Sujets Antifaschismus (Sp. 959), Sieg der Sowjetunion über Hitler (Sp. 965) und antifaschistisch-demokratischer Aufbau (Sp. 967) anhand vor allem der ATZE-Titelgeschichten referiert, dass man als mit der Thematik nicht vertrauter Leser den Eindruck bekommen muss, jenseits davon habe es in den Kinderzeitschriften (ausgenommen Mosaik, aber auch dort versteckt) keine Themen gegeben.
Alles im Dienste der Ideologie?
Der Grundtenor des Beitrages ist also ganz klar ein politisch motivierter: Die Kinderzeitschriften wurden instrumentalisiert, um die ideologische Linie der Staatsführung bei den kindlichen Lesern zu indoktrinieren. Dazu wählt Kramer seinen Standpunkt gut illustrierende Beispiele aus, aber es gibt (wiederum abgesehen von Mosaik) nahezu keine Beispiele dafür, wie in all diesen Zeitschriften daneben teils sehr kreativ mit den gestalterischen Spielräumen zwischen Linientreue und unterhaltenden Verkaufsanreizen umgegangen wurde.
Zunächst stellt Kramer dem Beitrag ein Zitat aus dem Buch "Die Kinderzeitschriften in der DDR von 1946 bis 1960" von Rudi Chowanetz voran, mit dem er belegen will, dass diese als "Werkzeuge ideologischer Beeinflussung" dienen sollten. Das will ich gar nicht in Abrede stellen, aber man sollte sich vor Augen halten, dass Chowanetz, ebenso linientreuer Chef des Kinderbuchverlages, in seiner 1982 in der Reihe "Studien zur Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur" erschienenen Monographie wohl kaum die Gelegenheit hatte, den unterhaltsamen Bestandteilen der von ihm betrachteten Zeitschriften höheres Gewicht zu geben als den politischen, selbst dann, wenn sie (zumindest zeitweise) in einzelnen Zeitschriften die klare Oberhand hatten.
Eine weitere fragwürdige These ist der von Kramer aufgedeckte "Spezialbefund", dass nach dem Machtwechsel zu Honecker 1971 die Kinderzeitschriften (anders als die Kinderliteratur) "... Bastion der kalten Krieger aus den Schützengräben... " blieben. Das mag für ATZE mit seinen 50% des Heftes einnehmenden politischen Titelgeschichten gelten, aber sowohl die FRÖSI als auch die TROMMEL machten in den Jahren ab 1974 entscheidende (einander bedingende) inhaltliche, gestalterische und redaktionelle Veränderungen durch, die den Unterhaltungscharakter hoben (von den parallel aufkommenden Kinderseiten in NBI, FÜR DICH und FREIE WELT mit entsprechend regelmäßigen, teils völlig unpolitischen Comics ganz zu schweigen). Ich habe keine Ahnung, auf welche Daten er diese These stützt, aber ich hoffe an dieser Stelle, sie im Zuge der Indexerstellung für die FRÖSI entkräften zu können.
Fast eine komplette Seite (ab Sp. 941) widmet Kramer einer einzigen Seite in FRÖSI 12/1970, auf der die damals gerade laufende ungarische Comicserie "Der Kapitän vom Tenkesberg" durch einen langen Brief an die FRÖSI-Leser unterbrochen und politische linientreu eingeordnet wird. Wer an dieser Stelle die nächste Comic-Folge erwartet hatte, wird bereits nach 10 Zeilen des klein gedruckten Textes weiter geblättert haben. Dort hingegen beginnt eine achtseitige Märchenwald-Geschichte von Ingeborg Feustel um den Weihnachtsmann, Fuch und Elster usw., illustriert von Ingeborg Meyer-Rey und jeweils am unteren Seitenrand versehen mit Bastelanweisungen, wie man die handelnden Figuren aus einem Blatt Papier basteln kann. Das war die FRÖSI eben auch, aber Kramer versucht hier offenbar keine ausgewogene Darstellung.
Die Sache mit Dick Dickson
Ab Spalte 943 referiert Kramer über "Dick Dicksons haarsträubende Abenteuer" von Hans Pfeiffer (Text) und Jürgen Günther (Zeichnungen), erschienen in FRÖSI 8/1968, als Beispiel für die "ideologisch korrekte Adaption" einer westlichen Vorlage, nämlich Nick Knatterton. Der Tatbestand: Zwischen die Bilder der völlig ideologiefreien Kriminalbildgeschichte waren Textblöcke montiert, die über den US-amerikanischen Imperialismus herzogen; hinter die Geschichte waren ganzseitige s/w-Bilder der Freiheitsstatue oder mit Waffen bedrohter Farbiger gestellt. Bereits Lettkemann und Scholz vermuten allein aus dem Lesen und Betrachten der vier Seiten, dass die Textblöcke und Hintergrundbilder lediglich Alibifunktion für die Veröffentlichung einer derartigen Geschichte haben sollten.
Zunächst ist anzumerken, dass es sich bei Dick Dickson nicht um eine Figur handelt, die wie Nick Knatterton eigens im Medium Comic entstanden war, sondern um einen Hörspiel-Detektiv, mit dem der Kriminalautor Hans Pfeiffer bereits in den Jahren 1962-1968 insgesamt 13 Kinder-Hörspiele verfasst hatte, die 2006 vom mdr wiederaufgeführt wurden. Es ist nicht sonderlich schwer, unter den "klassischen" Detektiven erhebliche Ähnlichkeiten festzustellen - so dürften sich Auguste Dupin und Sherlock Holmes hinsichtlich ihres Scharfsinns wenig nehmen, der Erfolg einer Hörspielreihe wie Professor Van Dusen andererseits dürfte in erster Linie in der Ähnlichkeit der Hauptfigur zum Archetypen Holmes sowie einer ironischen Brechung liegen, die wiederum dem Charakter der Nick Knatterton-Fälle ähnelt. Worauf ich hinaus will - Ähnlichkeiten in diesem Genre sind vermutlich leicht herstell- und wahrnehmbar. Dass ein Comicdetektiv Assoziationen zu Nick Knatterton auslöst, finde ich daher nicht verwunderlich, eine genauere Analyse lässt jedoch wesentlich weniger formale und inhaltliche Ähnlichkeiten zu Dick Dickson finden als z.B. zur Urfassung der "Reise zu den Proximanen" von Erich Schmitt.
Schlichtweg falsch ist Kramers Annahme, dass die Geschichte von Autor und Zeichner so intendiert war, wie sie letztlich in der FRÖSI-Ausgabe erschien. Was Lettkemann/Scholz nur vermuten, bestätigt sich angesichts der bei Jürgen Günther vorhandenen Originalzeichnungen, die Panel für Panel als Comic, die ganze Seite füllend und ohne ideologische Einleitung und Zwischentexte erstellt worden waren. Tatsächlich erfolgte die Ummontage, das Texteinfügen und das Einsetzen der Hintergrundbilder durch redaktionelle Einflussnahme, die Pfeiffer und Günther dazu veranlasste, die Arbeit an der auf vier Folgen angelegten Serie umgehend einzustellen (entgegen der Ankündigung am Ende der letzten Seite erschien kein zweiter Teil - dieses Indiz stützt die Vermutung von Lettkemann und Scholz, wird aber von Kramer unter den Tisch fallen gelassen, weil es seiner These widerspricht). Alle drei von Kramer zitierten ideologischen Textblöcke stammen nicht aus Pfeiffers Skript.
Der personelle Hintergrund: Dieter Wilkendorf, unter dem die FRÖSI in den Jahren 1953 bis 1967 inhaltlich und gestalterisch auf einem hohen Niveau lief, war aus politischen Gründen abgesetzt worden, und statt der Promotion seines bisherigen Stellvertreters Walter Stohr (der das Blatt im gleichen Stil weiter geführt hätte) setzte man Heimtraud Eichhorn auf den Posten der Chefredakteurin. Während Wilkendorf in den Jahren zuvor den Herausgeber oft erst im Stadium der Drucklegung mit dem Heft konfrontierte, sorgte Eichhorn dafür, dass der ideologische Anteil deutlich wuchs und die Einflussnahme des Herausgebers (bzw. ihr eigenes Wirken als oberster Zensor) in jeder Phase der Heftentstehung durchschlug. Man findet daher ab Anfang 1968 die Ersetzung der einheimischen durch die ungarischen Bildgeschichten (billiger zu lizenzieren; Stoffe politisch motiviert ausgewählt), die Erhöhung des Anteils ideologischer und propagandistischer Texte, weniger gestalterische Experimente usw.
Worauf ich hinaus will - ich finde es bedauerlich, dass am Beispiel dieser Geschichte ein Aspekt deutlich gemacht wird (nämlich die Ideologisierung selbst von Comics), der sowohl der vermuteten Vorlage (Knatterton) als auch den Autoren Unrecht tut, statt dessen aber einen guten Anlass für die Darstellung des Chefredakteurprinzips und der redaktionellen Zensur gegeben hätte. Letztlich waren es die Macher in den Redaktionen, die darüber entschieden, wie das Verhältnis zwischen (zentral gewollter) ideologischer Beeinflussung und (Leserbindung fördernder) Unterhaltung gestaltet wurde; und dass sie diese Spielräume unterschiedlich stark nutzten, ist Kramer als Mosaik-Experte sicher geläufig. Bedauerlich umso mehr, als dass die Vermutung von Lettkemann/Scholz nicht nur durch die Indizien gestützt wird, die der vierseitige Abdruck selbst liefert, sondern anhand von Originalmaterial und Zeitzeugen belegbar ist.
Wissenschaftlicher Anspruch
Mein bedauerndes Fazit ist, dass hier im Rahmen eines künftigen Standardwerkes die Chance vertan wurde, das Thema differenziert abzuhandeln. Stattdessen scheint die Kernaussage, die der Autor treffen wollte, nicht aus einer gezielten Suche entstanden zu sein, sondern von vornherein festgestanden zu haben. Dargestellt werden lediglich bestätigende Beispiele, darunter eines in Ausführlichkeit (Dick Dickson), das ich gerade für ungeeignet halte, weil bei ihm die propagandistische Intention deutlich übers Ziel hinausschoss. Es wären noch andere zu nennen, wie z.B.: "1974, dem 25. Jahrestag [sic] der Gründung der DDR, wurden zwischen Januar und Oktober auf jeder Titelseite von Frösi explizit darauf hingewiesen...". Stimmt. Richard Hambach hatte den Schriftzug 25 JAHRE DDR in seine 10 Zeichen zerlegt und jedes auf jeweils einem Titelbild mit weitgehend unpolitischen Wimmelbildern gefüllt, die auch heute noch eine Augenweide sind (Beispiel hier).
Leider gibt es auch diverse sachliche Fehler im Beitrag. So erscheint neben Mosaik und Bummi auch die sorbische Kinderzeitschrift Plomjo/Plomje ununterbrochen bis heute weiter (Sp. 937). Die Beilagen zu Kinder- und Jugendzeitschriften hießen schon immer "Gimmicks" und nicht "Gifts" (Sp. 939), der Zeichner von "Tenkes" heißt nicht Horvad (vielleicht eine Neuschöpfung aus Autor Horvath und Zeichner Zorad?), und es fehlt gänzlich die gerade wegen des Bezugs zur Kinderliteratur wichtige, von Fred Rodrian herausgegebene Zeitschrift "Unser Robinson".
Ich bedaure das um so mehr, weil hier wieder einmal auffällt, dass es zwischen der wissenschaftlich zu diesem Thema arbeitenden Zunft und den Sammlern und Fans keinerlei Austausch zu geben scheint, ja wir (und ich zähle mich eher zu Letzteren) regelrecht gemieden werden. Dabei stand die Dick-Dickson-Geschichte bereits im November 2005 in mosa.X #1, und über Unser Robinson, Plomjo, ungarische Comics etc. wird seit Jahren auf der Webseite berichtet.
Nun ist in einem umfangreichen, teuren und sich im wissenschaftlichen und bibliographischen Bereich künftig wohl als Standard etablierenden Werk eine meiner Ansicht nach erheblich verzerrte Sicht auf die Kinder- und Jugendzeitschriften der DDR "in Stein gehauen".
Ein Trost bleibt: Dass, wie Kramer am Ende des Beitrages schreibt, die "... Kinder- und Jugendzeitschriften der DDR ... mit Ausnahme von Mosaik und ... Fix und Fax ...aufgrund ihres ideologisch dominierten Inhaltes heute nur noch von der Forschung wahrgenommen ..." werden, kann so nicht stimmen. Die noch vor Erscheinen des Klassiker-Bandes vorhandene Nachfrage nach Mäxchen Pfiffigs frühen Abenteuern (mit seinem Negerfreund Bambo) und die Preise, die für FRÖSI, Atze etc. unter Sammlern zunehmend bezahlt werden, sprechen in meinen Augen dagegen. Nur nimmt die Forschung das eben nicht wahr.
Dresden, 3. März 2007
Guido Weißhahn
Lesezeichen