Vom Ausbleiben der Apokalypse
Hideshi Hinos Horror-Mangas lassen uns in den Spiegel blicken – und die Hölle sehen…
»Solange ich denken kann, wollte ich weg von diesem Haus. […] Es war ein altes, weitläufiges Gebäude. Niemand wusste so richtig, wo es anfing und endete. / Es war von allen Seiten umgeben von einem dunklen Wald aus knorrigen Bäumen. / Es gab keine Stelle, von der aus man das Haus als Ganzes sehen konnte.« Derart allumfassend und scheinbar ausweglos führt der japanische mangaka Hideshi Hino auf den ersten Seiten von »Red Snake« in die albtraumhafte Welt seiner Horror-Comics ein, die im Rahmen der Reihe Shodoku jetzt erstmals auf Deutsch erscheinen.
Red Snake:
»Meine Familie war ziemlich seltsam.«
[...]
Das ärgste Grauen für den Protagonisten von »Red Snake«, einen namenlosen, ängstlichen Jungen mit großen Augen, ist nämlich im innersten Kern seiner Familie, der vollständig von unterschiedlichen Formen des Wahnsinns infiziert ist, zu verorten. Diese Spielarten des Irrsinns drehen sich sämtlich um eine Hühnerzucht, die der Vater im Haus betreibt – oder vielleicht noch eher um die widerlichen Würmer, die er im Raum daneben züchtet, um sie an die Hühner zu verfüttern. Die dort mit rabiatesten Methoden produzierten Eier stellen eine Art Schmiermittel für die pervertierte Bande zwischen den Familienmitgliedern dar: Die Großmutter hält sich selbst für ein Huhn, lässt sich vom Vater mit Würmern füttern und sitzt gackernd in einem gigantischen Nest, während sie versucht, Eier auszubrüten. Der Großvater lässt sich von der Mutter tagtäglich in einer eindeutig sexuell motivierten Prozedur rohe Eier in ein gigantisches Geschwür im Gesicht einmassieren, um so Blut und Eiter aus diesem herauszudrücken; und die ältere Schwester des Helden stiehlt dann gleich heimlich das Gewürm des Vaters, um sich damit erotisch zu verlustieren…
[...]
Und der Schrecken, der ganz am Ende steht, ist nicht jener der Apokalypse, sondern vielmehr der ihres Ausbleibens – und der Erkenntnis, dass in Hinos Welt tatsächlich und wie befürchtet alles ganz und gar ausweglos ist…
Bug Boy:
»Wie gewohnt spielte Sanpei mit seiner Leichensammlung…«
Noch deutlicher äußert sich diese Sektion der eigenen Kontamination im zweiten Band der neuen Reihe »Hino Horror« bei Shodoku, die tatsächlich erstmals die Werke des vielleicht bedeutendsten Autoren des Horror-Manga einer deutschen Leserschaft zugänglich macht.
Hinter »Bug Boy« verbirgt sich eine Art splatter-retelling von Kafkas »Verwandlung« – mit dem Unterschied, dass sich Hinos erneut kindlicher Antiheld Sanpei nicht, wie Gregor Samsa, in sein Schicksal ergibt und an der Zurückweisung durch die Familie zugrunde geht, sondern sich zum grausam mordenden, Menschen fressenden Monster wandelt.
[...]
In einer Welt wie jener, die Hino beschreibt (und die höchstens einen Schritt hinter der unsrigen liegen mag) ist es schlicht und einfach normal, ein wahnsinniges Ungeheuer zu sein…
Darin mag auch begründet liegen, dass uns Hinos Comic-Erzählungen so nachhaltig verstören. Zwischen dem Lovecraft’schen Schweigen und dem Zeigegestus des Splatterkinos, zwischen der ins Groteske überspitzten, gebrochenen Niedlichkeit der stereotypen Manga-Ästhetik und den surrealistischen Höllenvisionen eines Hieronymus Bosch, und letztlich zwischen allen Stühlen sucht Hino, eine Kartographie der Abgründe vorzunehmen, die sich in den Lücken und Zwischenräumen unseres Daseins auftun. Das ist alles andere als Realismus, aber es ist stets klar, dass es uns angeht.
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