Habe "Wohlstand" gestern von kwimbi.de erhalten, danke für die nette Widmung! Einige Gedanken zu deinem Erstlingswerk will ich spontan loswerden:
Wohlstand
Ein sehr beachtliches Erstwerk einer jungen Kölner Zeichnerin, die uns ein recht düsteres Bild von einer möglichen zukünftigen Gesellschaftsform plastisch vor Augen führt. Auf 56 Seiten stellt TeMel uns die Welt der attraktiven Mirabelle Rapace vor. Eine Welt, in der der Staat die absolute Macht über seine Bewohner hat. Eine Diktatur mit allen Schikanen, die auch vor einer Überwachung von Privaträumen nicht halt macht. ("Auf Kamera 89 treiben es gleich zwei..") Alles hängt von dem Wert des Einzelnen für den Staat ab, der in Leistungspunkten gemessen wird. Sinkt dieser Wert, ist auch der Kauf von Zigaretten oder Alkohol nicht mehr möglich, ein Zwangsumzug wird angeordnet und auch die Haustierhaltung wird untersagt. Offiziell ist zwar alles genauestens geregelt, das schützt allerdings nicht vor straffreiem Machtmissbrauch der Staatsdiener.
Sind die Leistungspunkte auf Null gesunken, wird darum gebeten, sich doch selbst aus diesem Leben zu entfernen. Dafür stehen Selbstmordcenter zur Verfügung, die auch schon mal "japanische Wochen" anbieten: Selbstmord mit einem echten Samuraischwert. Wer gar nicht einsehen mag, dass er für die Gesellschaft keinen Wert mehr darstellt und deshalb den penetranten Aufforderungen zum Eigen-Sterben nicht nachkommt, bei dem hilft der Staat durch seine uniformierten Schergen nach. Ein Implantat mit einer Giftkapsel kann jederzeit gezündet werden.
Für das "Böse" stehen drei Pfeile, die an das Symbol der "Eisernen Front" erinnern. Allerdings war dieser Zusammenschluss aus den 30ern ein letzter verzweifelter Versuch, den radikalen Parteien (Nazis, Kommunisten) im aufkommenden 3. Reich einen Gegenpol der gemässigten Kräften zu bieten. Ob diese Umkehrung der Polarisierung von Gut zu Böse durch die Drehung der drei Pfeile um 180 Grad verdeutlicht werden soll? Oder nur zufällige Ähnlichkeit? Man weiss so wenig. Aber vielleicht gibt es in einigen Jahren ja eine Deluxe Sammlerversion von "Wohlstand" mit entsprechenden Ergänzungen, die uns einige der Zusammenhänge etwas näher bringen.
Dass dieses System seinen eigenen Untergang in sich birgt, wird später klar: Die Geburtenrate ist rapide zurückgegangen und die Bevölkerungszahl schrumpft immer weiter. Eine bedrückende mögliche Zukunft, die uns TeMel zeigt. Einige Elemente erinnern an "Soylent Green" (Selbstmordcenter, die dort allerdings wesentlich humaner vorgehen) und "1984" (Überwachungsstaat). Während allerdings dort noch Widerstand möglich ist und auch stattfindet, wird solcher in "Wohlstand" nicht erwähnt. Es stellt sich die spontane Frage, ob die Möglichkeit der Tötung durch Fernzündung sich nicht auch gegen den Staat und seine Schergen wenden kann, wenn jemand dieses System "hackt". Ebenso wäre auch ein Störsender denkbar. TeMel hat allerdings der Versuchung widerstanden, eine Geschichte nach dem üblichen Strickmuster zu erstellen: Jemand hat keine Chance, nutzt diese und bringt nach heroischem verzweifelten Kampf das System zum Einsturz. Ohne auf Einzelheiten einzugehen (Selbst lesen!), das Ende funktioniert subtiler. Mirabelle nutzt ihres letztes verbleibendes Selbstbestimmungsrecht und wirft dadurch ein winzig kleines Steinchen ins Getriebe der übemächtigen Staatsmaschine.
Es ist keine leichte Lektüre, sie regt zum Nachdenken an und das soll sie auch. Zwar sind wir noch lange nicht bei dem beschriebenen Szenarium, allerdings in Bezug auf einen "Überwachungsstaat" schon auf einem gutem Wege dahin. Hier ein Zentralregister der Bankstammdaten, dort eine Volkszählung mit einer riesigen Datei aller Bürgerdaten, hier ein Reisepass mit Fingerabdruck, dort eine einheitliche Steuernummer. Der permanente Schrei nach der Vorratsdatenspeicherung und vieles mehr. Es wird mosaikweise dran gearbeitet, uns flächendeckend überwachen zu können.
Zeichnerisch sehr gefällig, entspricht den Erwartungen, die durch die bisher gezeigten Zeichnungen von TeMel geweckt wurden. Ist sicherlich hier und dort noch entwicklungsfähig. Wir sehen hier eine junge Dame am Anfang ihrer (hoffentlich noch langen) Zeichenkarriere.
Zu gönnen wäre es TeMel auf jeden Fall, dass sich der Band gut verkauft. Von ihr ist sicherlich noch manches zu erwarten, wir sind gespannt!
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