Zitat:
Ende des sterblichen Sektors
Zur Kenntlichkeit stilisiert: In den »Berlinoir«-Comics regieren Vampire die Bundeshauptstadt
»Immerhin waren Arbeitsplätze und Renten sicher. Frisches Blut wurde immer gebraucht.« In der Comicreihe »Berlinoir« werden die Menschen nach Blutgruppen klassifiziert. Reinhard Kleist zeichnet das düstere Bild einer Stadt, die von Vampiren beherrscht wird. Es ist ein altes Thema, in Kleists Comic jedoch phantastisch gewendet: Jenseits des sterblichen Sektors leben nicht die Blutsauger im Verborgenen. Statt dessen organisieren sich ihre widerständigen Opfer im Untergrund.
So auch der junge Held Niall, der sich unter Führung des alten Zebaoth mit Anschlägen auf die vampirischen Oligarchen hervortut. Er ist einer der besten Kämpfer, zweifelt aber an seiner Mission. Als er der einflußreichen Vampirin Hellen begegnet, tötet er sie nicht, sondern läßt sich auf eine Liaison mit der gefährlichen Schönheit und ein intrigantes Doppelspiel ein. Er fühlt sich gezwungen, das Menschliche noch in seinen untoten Feinden zu sehen. Dennoch gelingt es ihm im Showdown des ersten Bandes, den greisen Chefvampir Szerbenmund im Sonnenlicht zu eliminieren.
Nun haben Kleist und Tobias O. Meissner den zweiten Band der (geplanten) Trilogie vorgelegt. In »Berlinoir 2 – Mord!« treibt neben den Vampiren ein weiteres Monster sein Unwesen. Wegen ungeklärter Morde veranlassen die Regierenden grausame Razzien ihrer gesichtslosen Garden. Die Guerilleros versuchen ihrerseits, dem Serienkiller auf die Spur zu kommen. Die Situation spitzt sich also noch einmal zu.
Die Zusammenarbeit von zwei so innovativen Künstlern wie Kleist und Meissner scheint Gewähr für eine spannende Fortführung der Serie. Nach eigener Auskunft war Meissner schon lange Zeit Fan des Zeichners Reinhard Kleist. Auf einer Buchmesse stellte sich der erfolgreiche Romanautor also einfach in die Signierschlange und fragte Kleist, ob er Interesse hätte, mal eines seiner Buchcover zu illustrieren. Kleist las Meissners Bücher und rief sofort zurück, nicht nur wegen eines Covers.
Die Idee zu »Berlinoir« entwickelten beide gemeinsam, doch hatte der Comiczeichner noch nie mit einem Romanautoren zusammengearbeitet, und der Autor noch nie ein Comicszenario verfaßt. Man merkt es dem zweiten Band an, daß Texter und Zeichner zunehmend eingespielt sind. Wieviel von welcher Sorte Text eine Comicdramaturgie vorantreiben kann, ist für Erzählgewerbetreibende sicher nicht leicht zu durchschauen.
Die Bilderwelt des Reinhard Kleist transportiert sehr viel. Auch in »Berlinoir« wird spürbar, mit welcher Liebe zum Detail Kleist seinen Bildern auf den Grund geht. Zauberhaft ist die Metropolis-Ästhetik seiner phantastischen Stadtlandschaften. Leuchtende Farben und expressive Porträts schaffen eine überaus lebendige Atmosphäre.
War man der Meinung, das Genre der Vampirgeschichten sei längst durchdekliniert, so hält der intelligente Plot von »Berlinoir« doch einige Überraschungen bereit. Er ist Parabel auf eine gewalttätige Orwellsche Diktatur, großartiger Actionkrimi, morbide Fantasy-Story und Liebeserklärung an diese Stadt zugleich. Dabei leistet er sich in allerlei realen Berlin-Anspielungen sogar einen gewissen Humor. Es wird Zeit, daß sich die Herren an den dritten Band machen!
* Reinhard Kleist und Tobias O. Meissner: Berlinoir 1 – Scherbenmund. Berlinoir 2 – Mord! Beide Edition 52, jeweils 12,50 Euro