Im Chat entstanden, Ich: schwarz, Foxx: blau
"Hallo, hier ist... mein Name ist Jamie. Ich bin Frenschra...Fremdsprachenassistent an Fabians Schule." Welcher Idiot hatte sich dieses bescheuerte Wort ausgedacht? Darüber stolperte er jedes Mal. "Ich war heute bei Fabian. Er hat mir deine Nummer gegeben."
Während er sprach, entfernte er sich aus dem Zimmer, um ungestört sprechen zu können. Das würde Kirsten sicher verstehen.
Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment Stille. Erst als Jamie bereits aus dem Wohnzimmer gegangen war (Kirsten war viel zu interessiert an den Nachrichten, um auf sein Gehen zu reagieren), erhielt er schließlich eine zögerliche Antwort. "Hallo ... ähm, Jamie. Ich bin ehrlich gesagt ein wenig ... überrascht. Soweit ich weiß, dürfen nur Familienmitglieder zu meinem Bruder." Ihre Art zu sprechen ähnelte der ihres Bruders, wenngleich sie etwas deutlicher und mit geringerer regionaler Färbung artikulierte, worüber Jamie dankbar war.
"Deine Mutter hatte mich gebeten zu kommen." Er zögerte. "Fabian hat mich gebeten dich anzurufen. Äh - das wird jetzt vollkommen verrückt klingen."
"Ich weiß, dass meine Mutter heute bei ihm war ... aber sie hatte nicht erwähnt, dass sie in Begleitung gewesen wäre." Jamie glaubte Skepsis in ihrer Stimme zu hören, aber er war sich nicht sicher, ob sie (nur) ihm galt.
"Es war alles ein bisschen verwirrend. Für alle." Jamie war froh, dass er einen Punkt geliefert bekommen hatte, an dem er ansetzen konnte. "Fabian ging es nicht gut. Als ich zu ihm kam, ging es ihm auf einmal wieder besser. Und ich meine eigentlich nicht besser, sondern - gut. Er hat mir dann erzählt, dass er Dinge sieht. So etwas wie hellsehen. Und ich - das klingt jetzt total seltsam - ich kann heilen. Ich hatte bis heute keine Ahnung."
Ein langgezogenes Atemgeräusch war am anderen Ende der Leitung zu vernehmen. Sie ließ sich abermals Zeit mit ihrer Antwort. "Herr ... ähm, ich meine Jamie, haben Sie eine Vorstellung davon, wie bescheuert das gerade klingt? Was soll ich von Ihrem Anruf halten? Ich kenne Sie nicht, sie erzählen mir dass sie mit meiner Mutter bei meinem Bruder war, obwohl sie das mit keinem Wort erwähnt hat und setzen dann noch einen drauf und reden von Hellsehen und Heilkräften." Etwas Provokantes lag in ihrer Stimme, fast als wolle sie ihn prüfen oder herausfordern.
Nach dem unverhofften Zusammentreffen mit Fabian und Luka heute Nachmittag hatte Jamie halb damit gerechnet, in Fabians Schwester eine weitere Gleichgesinnte zu treffen, und während er ihr ihre Skepsis nicht verübeln könnte, traf sie ihn doch.
"Fabian hat mir gesagt, ich soll - Sie anrufen, damit Sie uns helfen, ihn aus der Klinik zu holen." Jamie schwenkte schnell ebenfalls zum Sie, und machte bei Aspekt II seines Anrufes weiter, in dem Beschluss, Aspekt I vorerst ruhen zu lassen. "Er will da raus, und er sagt, Sie können uns helfen. Ein Pfleger ist da, der kann uns auch helfen." Das klang irgendwie weit konkreter, als es war. "Fabian sagte, sein Großvater hat einen Garten oder so etwas in der Nähe, dort könnte er sich verstecken."
"OK, Jamie, Sie sollten wissen, dass ich Ihnen glaube, sie haben offenbar wirklich mit meinem Bruder gesprochen. Dieses Telefonat ist ... seltsam, aber im Moment sind eine Menge Dinge seltsam. Und für Sie wahrscheinlich ganz besonders." Mit einem mal lag in Vanessas Stimme Verständnis. Verständnis und ein Tonfall, der irgendwie nach "been there, done that" in seinen Ohren klang. "Und das wird Sie jetzt vermutlich überraschen - aber Fabian aus der Klinik zu holen war bereits mein Plan. Denn ich weiß, dass man ihm dort sowieso nicht helfen kann."
"Oh", sagte Jamie. "Woher?"
Ein kurzes Zögern, doch nicht vergleichbar mit den langen Pausen, die sie zuvor mehrmals eingelegt hatte, ehe sie antwortete: "Sie sagten, er könne hellsehen oder so etwas Ähnliches. Ich würde sagen, es liegt in der Familie."
Jamie war unglaublich erleichtert, dass dieses Telefonat nun doch noch in Bahnen verlief, die zumindest die Vertrauensfrage nicht weiter erschwerten. Diese Erkenntnis genügte ihm; im Moment gab es Wichtigeres zu besprechen. "OK. Sie sagten, sie hätten einen Plan für die, den... Ausbruch. Was hatten Sie vor?"
Sie gab eines dieser Schnaufen von sich, die eigentlich ein angedeutetes Lachen waren. "Ziemlich genau das Gleiche, wie Fabian auch - ihn in den Schrebergarten unseres Großvaters bringen. Ich hab die Schlüssel dazu und es gibt dort eine Hütte, in der er erstmal bleiben kann."
"OK", sagte Jamie. "Ich glaube, Sie können wirklich hellsehen."
"Nein, das nicht." Sie ließ die Alternative offen. "Jamie ... Ihnen schwirrt vermutlich der Kopf. Aber vielen Dank, dass sie mich angerufen haben. Ich könnte verstehen, wenn Sie sich ab jetzt gerne aus der ganzen Sache raushalten möchten. Aber falls Sie weiterhin bereit wären zu helfen ... wir ziehen das heute Abend durch. Ich hab noch zwei weitere ... 'Verbündete'."
Meine Güte, dachte Jamie. Wir sind 'ne verdammte Armee! "Ich habe Fabian gesagt, dass ich helfe. Also bin ich dabei." Er lauschte derweil mit einem halben Ohr zum Nebenraum, um nicht mitten in höchst geheimen Plänen von Kirsten überrascht zu werden.
"Super!" Vanessa klang ehrlich erfreut. "Wo sind Sie? Wir haben ein Auto. Wir holen auch noch Fabians Freundin ab, vielleicht ist es das Geschickteste, wir fahren dann auch bei Ihnen vorbei. Sofern sie nicht gerade in Herzogenrath wohnen oder so."
"Im Zentrum", sagte Jamie. "Theaterstraße."
"OK", kam die Antwort, "dann holen wir Sie ab, in ... etwa ner halben Stunde. Und Jamie?"
Jamie war leicht überrumpelt. In einer halben Stunde? Bloody hell.
"Danke!", schloss Vanessa. Sie schien es auf einmal ebenfalls eilig zu haben, so als sei ihr durch die Zeitangabe bewusst geworden, dass sie sich ebenfalls beeilen musste.
"Und - der Plan?" fragte Jamie. Leichte Panik stieg in ihm auf.
"Erklär ich dir dann. Ich ruf an, wenn wir in der Theaterstraße sind, OK? Achso, äh ... welche Nummer?"
"Ich - hab kein... Handy. Also, keine Karte. Ich warte draußen."
"Was ist mit der Nummer, von der aus du anrufst?" Aus irgendeinem Grund war Vanessa inzwischen zum Du gewechselt.
"Das ist das Telefon meiner Mentorin. Bei der wohne ich, deswegen auch nicht klingeln."
"Ähm ... OK, dann ... schaue ich, dass wir pünktlich sind, dass du dir nicht die Beine in den Bauch stehst."
"Was?!" fragte Jamie. Seine Stimme musste nun auch für Vanessa eindeutig gehetzt klingen.
"Was 'was'?" Offenbar war ihr nicht klar, wo das Missverständnis lag.
"Ich - habe das letzte bisschen nicht verstanden. Ich spreche nicht als Muttersprache Deutsch." Ja, und das hätte sie spätestens nach dem Satz gemerkt, dachte er säuerlich, als er ihn mental noch einmal analysierte.
"Oh, sorry", meinte sie, wobei sie das "sorry" mit deutschem r aussprach. "Ich meinte, dass wir uns beeilen, damit du nicht so lange warten musst." Sie sprach jetzt plötzlich besonders deutlich und etwas langsamer, als es nötig gewesen wäre.
"Ah, OK." Jamie atmete ein paarmal tief durch. "Sie sind dann, also du bist dann, also - ihr seid dann in einer halben Stunde hier?"
"Ähm", sie hielt inne, schaute vermutlich auf die Uhr, "sagen wir 40 Minuten ... ist wahrscheinlich realistischer."
"Ich warte an den Stufen am Theater, vorne an der Straße."
"Oh super, dann brauchen wir nicht suchen. Also bis dann. Boah shit, jetzt bin ich aufgeregt."
"Ich auch", gab Jamie zu. Er war ganz froh, damit nicht allein zu sein.
"Wär ja auch seltsam, wenn nicht", scherzte sie, ehe sie sich dann endgültig verabschiedete und Jamie kurz darauf kurzes, rhythmisches Tuten auf dem Ohr hatte.
Jamie klickte ebenfalls auf die "Unterbrechen"-Taste von Kirstens Handy, und zwang sich zu noch ein paar beruhigenden, langsamen Atemzügen. Er hatte das Gefühl, Kirsten müsse glauben, er sei gerade einen Marathon gelaufen, so fertig fühlte er sich.
Jetzt schon. Und der Abend fing gerade erst an.