Der Salon war, wie bereits das Esszimmer, elegant doch spartanisch eingerichtet: der große Flügel schien eine Antiquität, war aber zumindest optisch im besten Zustand, ebenso das Mobiliar. Die Wände waren holzvertafelt und auf halber Höhe mit einer abgesetzten Bordüre versehen. Zwischen dem großen Lehnsessel und dem Sofa erspährte Lykahn nun auch einen etwa kniehohen Beistelltisch, in dessen hölzerne Tischplatte mittig eine Glasscheibe eingelassen war. Darauf stand zum einen ein einzelner Kerzenständer aus Glas sowie eine flache Prozellanschale, die mit Sand gefüllt war und in die jemand ein weiteres Objekt gelegt hatte: eine Kugel aus rot-transparentem Stein, vielleicht gar Rubin, in deren Inneren etwas zu leuchten schien.
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Christine musste nicht erst lange warten, abermals reagierte der "magische Index" sofort auf ihre gedankliche Anfrage.
Markus Aboraschon: Linea Sanguinis VIII, Regesta Cana, Pagina XIV
Als sie sich umsah, um das Buch zu suchen, bemerkte sie rasch, dass in einem Regal in der linken hinteren Ecke auf dem obersten Regalboden eine Reihe dicker Bände stand, die so groß und kunstvoll eingebunden waren, wie das in ihrem Zimmer. Und tatsächlich: der (wie sie beim durchzählen bestätigend feststellte) siebte Band fehlte. Zudem bemerkte sie, dass zwei der Bände auffällig schmal waren, so dass sich kaum Seiten zwischen den Lederdeckeln befinden konnten. Vorerst aber interessierte sie vor allem das achte Buch, so dass sie es heraus nahm und begutachtete: statt einer Rose zierte nun ein stilisierter Falke den Einband und von den 12 Namen, welche sich auf der ersten bedruckten Seite fanden, war nun ein anderer eingefärbt: Rhiduon.
Mühelos fand sie das dunkelgraue Register und blätterte die Seiten vor, bis sie auf der vierzehnten angelangt war (welches keineswegs die letzte dieses Abschnitts war) und dort Markus' Namen fand. Obwohl er selbst keine "Nachfahren" hatte, stand er inmitten einer schier unüberschaubaren Vielzahl von "Geschwistern", welche alle von einer Vampirin namens Fatimah abstammten. Interessiert konnte Christine feststellen, dass bei dieser kein Kreuz verzeichnet war - sie musste also noch am Leben sein, wenn auch jetzt wohl als Mensch. Interessanterweise entdeckte Christine bei Markus selbst sowohl ein Kreuz als auch ein weiteres Zeichen, welches sie bisher noch nirgends im Buch gesehen hatte: es war ein simpler Kreis, der neben das Kreuz gesetzt worden war.
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Willow war alleine. Als sie die Augen öffnete, waren sowohl Froze als auch Quicksilver verschwunden, nur die unzähligen Leinwände, welche nun alle wieder gefüllt waren, umgaben sie noch. Mit einem mal schien es ihr kalt und still - ob ein Schauder sich hier in der Welt ihres Geistes wohl so anfühlte?
Dann hörte sie mal Schritte (woher kamen sie? seit wann hallte das weiße Nichts um sie herum unter den Schritten anderer?) und als sie sich umwandt, erblickte sie eine Gestalt, die hinter einer der größeren Leinwände hervortrat - und sah zu ihrer Überraschung ihrem Abbild ins Gesicht - zumindest beinahe: Das Haar zerzaust, die Augen schwarz geschminkt, die Lippen dunkelrot. Sie trug ein schwarzes Mieder, tief ausgeschnitten, den Bauch unbedeckt, dafür die Arme in langen seidenen Stoff gehüllt, und eine Lederhose, enganliegend, seitlich offen und mit Schnüren zusammengehalten. Um den Hals trug sie an einem Lederband ein blutrotes Juwel. Sie wusste nun, wer das war, sie hatte alle relevanten Erinnerungen wiedererhalten, um diese Version ihrer selbst zu erkennen.
"Der Telepath hat es klug angestellt", lächelte die andere anerkennend. "Nun sind der Mensch, der du warst, und die Vampirin wieder eins." Sie sah glücklich aus.
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"Was ist passiert? Mit einem wütenden Fauchen war Froze nach vorne geschnellt und hatte Quicksilver am Kragen gepackt. Sie waren wieder in Willows Zimmer, beide urplötzlich erwacht - nur Willow selbst lag noch immer reglos auf dem Bett, während ihr Geist auf der Astralebene verweilte. "Warum sind wir erwacht und sie nicht?" Frozes Augen funkelten bedrohlich und er spielte es nicht - er würde dem Telepathen weit mehr antun als ihn nur unsanft anzupacken, sollte der dafür verantwortlich sein, wenn Willow etwas geschah. Doch Quicksilver hatte nicht vor, sich derart anfahren zu lassen: "Ich weiß es nicht, verdammt, wir sind quasi "rausgeflogen", keine Ahnung weshalb. Vermutlich war sie selbst es, oder ihr Unterbewusstsein - anders kann ich es mir nicht erklären. Und solange du mich bedrohst, statt mich nach ihr sehen zu lassen, kann ich dir auch nichts weiteres sagen, Idiot! Keine gute Idee, dem einzigen an die Gurgel zu fahren, der ihren Zustand näher bestimmen und eventuell helfen kann." Sein Blick hielt dem Frozes stand und er wartete, bis dieser nur missmutig den Griff lockerte und schließlich abließ. Sicherlich hätte der Vampirjäger den anderen auch per Telekinese von sich stoßen können, doch es lag ihm fern, einen Kampf anzufangen - er und Froze waren schon zu oft aneinandergeraten. Stattdessen beugte er sich nun, ohne Froze weiter zu beachten, über Willow, legte seine Hände an ihre Schläfen und konzentrierte sich darauf, herauszufinden, was soeben passiert war.