The Holdovers (Alexander Payne)
Über die Weihnachtsfeiertage müssen in einem Internat in Neu-England ein einsamer Sonderling von Professor und ein von seiner Mutter vernachlässigter Schüler miteinander auskommen. Ein wunderbarer Film, Paynes bester seit SIDEWAYS (2004), in der Tradition von bitter-süßen Lehrerfilm-Klassikern wie DEAD POETS SOCIETY (aber weniger sentimental), THE BROWNING VERSION (die brillante Mike Figgis-Version mit Albert Finney) oder gar GOODBYE MR. CHIPS (aber weniger tragisch), in einer fast an New Hollywood gemahnenden 70er-Ästhetik (z.B. James Bridges' THE PAPER CHASE/1973). Man denkt zunächst, man habe das alles ja schon gesehen, doch das brillante Script entwickelt ganz schnell einen immensen Sog und Paul Giamatti glänzt hier wie wohl seit AMERICAN SPLENDOR und SIDEWAYS nicht mehr. Wenn der Mann keine Oscar-Nominierung hierfür bekommt, verstehe ich die Welt nicht mehr.
Shrapnel (William Kaufman)
Der führende Direct-to-DVD-Action-Auteur unserer Tage hat 2023 gleich 3 neue Werke abgeliefert (die anderen sind THE CHANNEL und WARHORSE ONE). SHRAPNEL ist wie gehabt ein völlig ironie- und gimmickfreies, sich selbst genügendes, geradezu solipsistisches Krachergeschoss, das ebenfalls wie gehabt Hyper-Ballerei zur unprätentiösen Kunstform erhebt. Der Inhalt ist schnell zusammengefasst: Es ist praktisch der wahninnig unterschätzte und total grindhousige RAMBO 5, nur dass die Reihenfolge der beiden Kapitel vertauscht wurde. Es geht rund in der Kiste, gnadenlos. S(c)hrapnel(l), indeed.
Master Gardener (Paul Schrader)
Nunmehr Joel Edgerton (mit Neo-Hitlerfrisur) als verlorene und schuldbeladene Seele, ein Gärtner-Genie und reformierter Neo-Nazi, der mit dem sein renitentes Azubi-Girl bedrohenden Drogendealer-Abschaum aufräumen muss. Nicht so toll wie der sehr Bresson-hafte FIRST REFORMED mit Ethan Hawke (2018), aber mMn zwingender als der vorige Schrader THE CARD COUNTER mit Oscar Isaac. Während FIRST REFORMED (passenderweise) in klaustrophobisches Vollbild gezwängt war, erscheint die ebenso reale wie sinnbildliche Gartenwelt hier in ausladendem Widescreen-Format. Sprich: Es gibt Hoffnung. Etwas.
Killers Of The Flower Moon (Martin Scorsese)
Sein alter Kumpan Scorsese hingegen schwelgt wieder in einem eindrucksvollen Panoptikum der totalen Verkommenheit und der durch externe Kräfte beigebrachten Vergeltung, diesmal vor dem Hintergrund der historischen Landraub-Morde an Teilen der Osage Nation in den 1920ern. Und das in wie zuletzt bei THE IRISHMAN epischer Länge (erneut 3 1/2 Stunden), die anläßlich des Plots jetzt nicht gerade gerechtfertigt scheint (es ist nicht inhaltlich ein Epic wie DER PATE II), dennoch: langatmig fand ich das Teil nicht eine Sekunde! Die Akteure glänzen: DiCaprio grummelt und zieht eine Zerr-Schnute (durchgehend!), als ob er nicht richtig ticken würde (in einem Anfall von Großmut könnte man ihn fast mit Joaquin Phoenix in Paul Thomas Andersons THE MASTER vergleichen, aber so genial ist er dann natürlich doch nicht); De Niro ist ganz der stoische Wolf im freundlicher-Onkel-Schafspelz mit seinen hier fast minimalistischen Tics, Lily Gladstone ist DiCaprios leidende Ehefrau, ein Gaslighting Victim, wie es im Buche steht, und Jesse Plemons verkörpert hier praktisch das Gegenteil seines anderen FBI-Manns in dem phänomenalen INFERNAL AFFAIRS/THE DEPARTED meets knallhart verstörende US-Historie-Meisterstreich JUDAS AND THE BLACK MESSIAH (für mich immer noch der beste US-Film des Jahrzehnts bisher).
May December (Todd Haynes)
Schauspielerin Natalie Portman begibt sich zwecks Rollenstudium zu der aufgrund eines Sexskandals notorischen Julianne Moore, die ihren ehedem minderjährigen Lover geheiratet hat. Haynes liegt natürlich nichts ferner, als den Moralapostel abzugeben (was wohl Grund für einige feindselige Kommentare auf der imdb ist), stattdessen werden die Geflechte zwischen allen Figuren und nicht zuletzt die tendenziell manipulative Attitüde des Hollywoodstars ohne offenkundige Wertung seziert. Portman bereitet sich darauf vor, Moore zu spielen; einmal stehen sie sich wie kaum zu trennende reale Spiegelbilder gegenüber, à la Ingmar Bergmans PERSONA.
Der merkwürdig anachronistische Soundtrack mit seinen pseudo-melodramatisch eingesetzten Cues stammt nicht aus einem Fassbinder-Film, sondern von Michel Legrand aus Joseph Loseys Verfilmung von THE GO-BETWEEN (Goldene Palme 1971), in dem die erwachsene Version des Protagonisten am Ende mit den Charakteren der Vergangenheit im selben Bild steht. Und falls das jemandem aufgefallen ist: Wenn wir in MAY DECEMBER die Dreharbeiten zu dem Portman-Film sehen, tragen die Kamera-Muster das Insignium Audubon. Das ist der Name des Verleihs von Radley H. Metzger, der in den Sechzigern europäische Pionier-Erotik-Filme wie den Bergman-esken I, A WOMAN/ICH, EINE FRAU in die USA importierte und Metzgers (u.a.) davon wiederum inspirierte eigene Filme herausbrachte. In seinem 1968er, stark von der Nouvelle Vague und Antonioni beeinflussten THERESE AND ISABELLE durchbricht eine der Hauptfiguren ebenfalls das diegetische Raum-Zeit-Kontinuum und begegnet somit ihrem jüngeren Ich. In einem magischen, atemberaubenden Moment. Tolle Einflüsse bei Haynes also mal wieder, unterkühlt in etwas Eigenes transformiert. So ist's recht.