Lousberg, Försterstraße │ am späten Abend
Luke war inzwischen aus der Fahrerkabine des Rettungswagens nach hinten geeilt, wo ihn aufgrund der erfolgten Vollbremsung sowie der geborstenen Scheiben das reinste Chaos erwartet. Er orientierte sich kurz, sah dann, dass Jamie verletzt war und beeilte sich, die Platzwunde zu versorgen. Jamie stöhnte erneut, doch er war bei Bewusstsein. "Alles ist gut, beweg Dich nicht. Du hast eine Platzwunde, daran stirbt man nicht", redete er dem Briten zu und fuhr dann dort: "Es sieht schlimmer aus, als es ist." Er blickte auf, warf Natalie, Fabi, Nick und Vanessa einen beruhigenden Blick zu, während er die Blutung mit einem Stück Tuch abdrückte. "Ich brauche Desinfektionsmittel und Mull, beides müsste hier irgendwo rumfahren." Er ließ den Blick schweifen, doch seit der Notbremsung lag alles durcheinander und er musste sich auf den Patienten konzentrieren. Er musste erst einmal die Blutung stillen, am besten mit einem Druckverband, denn so lange Jamie blutete, konnte er nicht prüfen, ob die Wunde genäht werden musste.
Draußen war eine unheimliche Stille eingetreten. Noch wusste niemand von ihnen, was hier eigentlich los war. Doch sie waren am Lousberg, dem Ort aus Fabians Vision ...
*
Noch immer sah Karma sich der gezückten Waffe des Mannes mittleren Alters gegenüber, während die Russin, mit der sie vor wenigen Minuten noch im gleichen Auto gesessen hatte und die ihr die Liste ihres Vaters geklaut hatte, nach dem Killer sah. Dieser hatte sich nicht gerührt, seit Karmas Schrei ihn in den nächstbesten Zaun befördert hatte.
"OK, bringen wir ein wenig Licht in das Ganze. Keinem von Euch geschieht etwas. Wir sind die Guten hier. Aber es ist wichtig, dass ihr kooperiert, Euch ruhig verhaltet und unsere Arbeit hier nicht unnötig erschwert", erklärte der Mann jetzt und sein Blick ging zwischen Karma und Magnus hin und her, dann ließ er, als Zeichen der Kooperation, den Taser sinken. "Du bist also die Tochter von Reiner Leischner? Ich kannte Deinen Vater." Er hielt inne und Karma glaubte, Feinheiten in seinem Tonfall zu erkennen, die auf Ehrlichkeit schließen ließen. Ihr war bislang nie aufgefallen, wie fein die Unterschiede in der Sprachmelodie eines Menschen sein konnten. "Es tut mir Leid, was passiert ist. Aber es hat keinen Zweck, wenn Du auf eigene Faust versuchst herauszufinden, was dahinter steckt. Das alles hier ... das ist eine größere Angelegenheit und Dein Vater hatte Freunde, die sich darum kümmern." Dann wandte er sich Magnus zu. "Wie gehören Sie hier dazu?", fragte er und sein Tonfall war nun wieder tonloser und von einer Spur Misstrauen geprägt.
Im Hintergrund stand Mark und sah zu, wie die Ereignisse dieser Nacht immer kurioser wurden. Sein Vater redete auf seine Mitschülerin ein, richtete immerhin nicht länger eine Waffe auf diese. Die ganze Situation schien sich zumindest ein bisschen zu beruhigen, doch war das alles viel zu verwirrend, um sich ein klares Bild machen zu können. Die slawisch aussehende Frau, die bis eben auch noch mit ihrer Pistole herumgefuchtelt hatte, entfernte sich, um nach einer weiteren Person zu sehen. "Glaubst Du, Dein Dad ist bei der Mafia oder sowas?", hörte er plötzlich eine Stimme unmittelbar neben sich und erschrak für einen Moment, bis er bemerkte, dass es Matze war, der inzwischen auch aus dem Auto ausgestiegen und zu ihm gestoßen war.
Vorsichtig näherte sich Natalja dem Motorradfahrer, der noch immer regungslos in den Holztrümmern lag. Offensichtlich waren die Hausbesitzer, in deren Gartenzaun er gekracht war, entweder nicht zuhause oder hatten von dem Vorfall nichts bemerkt. Sie passierte Kangxin, der sich, seit auch er von Karmas Schrei von den Füßen gerissen worden war, wieder aufgerappelt hatte und seither etwas bedröppelt am Rand stand. "Alles OK? Hast Du Dich verletzt?" Sie wagte es, den Blick von dem bewusstlosen Motorradfahrer zu lösen, nicht aber, die Waffe sinken zu lassen, und sah ihren Exfreund an, anscheinend ehrlich besorgt.
Süsterfeldstraße │ am späten Abend
Penny nahm einen tiefen Atemzug und die frische Nachtluft stach in ihrer Nase. Verrückt! Das alles war verrückt. Sie war tatsächlich soeben aus einem Notausgang der Bade GmbH ins Freie getreten. Sie hatte es Kjell zuvor nicht geglaubt - es war schließlich auch eine absurde Vorstellung, dass in Aachens größter Printenfabrik Labore und Kerker im Untergeschoss untergebracht sein sollten. Und doch war es so ...
Ihre Flucht war erstaunlich reibungslos verlaufen. Der Gang nach dem Aufzug hatte an ein paar Büroräumlichkeiten vorbeigeführt, die um diese späte Uhrzeit verlassen waren. Dann waren sie einem Wärter begegnet, doch Kjell hatte diesen mit dem Taser ausgeschaltet. Einem weiteren Trupp Wärter hatten sie ausweichen können, indem sie sich in einer Behindertentoilette versteckt hatten. Das alles war eigentlich viel zu einfach vonstatten gegangen.
Nun war sie allein. Kjell hatte darauf bestanden, dass sie sich trennten, ihr erklärt, dass man ihn würde orten können, Penny aber sicher war. Sie solle am besten bei jemandem unterkommen, dem sie vertraute - "... und das sind nicht unbedingt die, von denen Du es glaubst." Mit dieser Warnung hatte er sie alleine gelassen. Und nun? Ihr erster Instinkt war es, ihre Mutter aufzusuchen. Sicher war die schon ganz krank vor Sorge. Dann aber kamen plötzlich Zweifel, als sie bemerkte, dass die Erinnerung an ihre Mutter die letzte war, ehe sie sich in dieser Zelle befunden hatte. Was war dazwischen geschehen? Sie hatten Tee getrunken und ihre Mutter hatte sie ermuntert, sich an die Polizei zu wenden und dann hatte Penny einen Kreislaufkollaps gehabt. Hatte ihre Mutter sie ins Krankenhaus gebracht? War sie von dort vielleicht entführt worden? Oder ...
Ein nie gekanntes Misstrauen gegenüber ihrer eigenen Mutter ergriff sie, dessen sie sich nicht erwehren konnte. Penny fiel auf, dass nur sie selbst von dem Tee getrunken hatte, während ihre Mutter ihrer Schilderung der Vorfälle am Nachmittag gelauscht hatte. Es war nicht einmal so, dass ihre Mutter ihre Tasse nicht angerührt hätte, nein, sie hatte sich von vornherein nichts eingeschenkt. War sie paranoid? Vielleicht hatte sie nur keinen Tee gewollt ... doch auch wenn sie die Zweifel von sich weisen wollte, es gelang ihr nicht.
Doch wohin dann? An wen konnte sie sich wenden? "Christoph!", schoss es ihr durch den Kopf. Aber war das klug? Wenn ihre Mutter in irgendeine Art von Machenschaften verwickelt war, dann vielleicht auch ihr Onkel? Doch es war die einzige Option, die ihr einfiel. In ihre Wohnung wagte sie sich nicht zurück, denn wer auch immer letztendlich hinter all dem steckte, hatte sie schließlich von dort entführt. Und sich an die Polizei zu wenden hatte ihr zuvor schon kein Glück beschert. Somit war Christoph vielleicht ihre einzige Hoffnung. Was blieb ihr sonst übrig?
*
Nicht weit entfernt schloss Kjell die Augen, breitete die Arme aus und genoss die kalte Nachtluft. Frei! Nach so langer Zeit ...
Mithilfe des Tasers hatte er bereits sowohl den Neutralizer als auch das Ortungsimplantat kurzschließen können. Wie praktisch, dass die Kleine darauf bestanden hatte, dass er die Waffe bei sich behielt. Überhaupt, welch ein Glücksgriff: eine Kontakthypnotiseurin ausgerechnet in der Nachbarszelle und dann auch noch derart kooperativ. Er würde das berücksichtigen, wenn er ihr wieder begegnen sollte, sie hatte etwas gut. Alle anderen hingegen ...
Ein schelmisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Nun, da er zurück war, galt es einige Dinge in Angriff zu nehmen. "Süße Träume", flüsterte er. Dann schritt er in die Nacht.