Oftmals warte ich eine Weile ab, bevor ich eine Rezension verfasse, um den Inhalt sacken zu lassen. Das habe ich hier nicht vor - die Pro7Maxx-Premiere habe ich verpasst, aber die Wiederholung um 0:50 konnte ich verfolgen. (Überraschenderweise ohne eine einzige Werbeunterbrechung!)
Nun gut, wie fand ich den Film? Mir wurde er ja als "anders" verkauft. Ich hatte das als "deep" interpretiert, also tiefgründig. Einerseits ist das falsch - gemeint wurde wahrscheinlich einfach die komplett fehlende Fantasy. Andererseits stimmt's aber doch, denn obwohl der Film ein simples Schulliebesdrama sein will, entwickelt er sich zu einem beeindruckenden Psychodrama, auch wenn er das auf gar keinen Fall beabsichtigt. Um meine Bewertung vorwegnehmend zu erklären: Wie soll man mit einem Film umgehen, der mit dem, was er sich vornimmt, eigentlich komplett auf die Nase fällt, aber auf eine unbeabsichtigte Art und Weise so faszinierend, witzig und gedankenanregend ist, dass das das eigentliche Vorhaben mehr als aufwiegt? Nun, in so einer Situation bin ich bereit, eine hohe Punktzahl zu vergeben!
Fangen wir an: Am Anfang natürlich der stereotype Alacrity-Disclaimer, dass mir Geschichten, die in unserer Welt spielen, sehr oft gefallen, selbst wenn andere sie langweilig finden. Die Darstellung des Alltags finde ich interessant, da durch die weniger phantastische Welt ein stärkerer Fokus auf die Dialoge und Charakterentwicklung gelegt werden muss, um interessant zu bleiben. Am Anfang war ich jedenfalls schon abgeholt: Taku hat mir als Protagonist gefallen und Yutaka hat zumindest seinen Zweck in der Geschichte erfüllt. Die faszinierendste Person der Geschichte war aber Rikako. Einmal dreht sich die Geschichte eher um sie als um unseren Protagonisten und sie hat die ausgefeilteste Persönlichkeit von allen. Anders als bei vielen anderen dreidimensionalen Charakteren wird aber jedes neue Merkmal dafür genutzt, sie so unsympathsich wie möglich zu machen - nur vereinzelt hat sie Momente, in der man zumindest Mitleid mit ihr hat. Sie ist gut darin, die Menschen um sich herum zu manipulieren, ihr Umgangston mit Taku grenz an verbalen Missbrauch und sie ist unglaublich selbstsüchtig - wobei man, denke ich, aus dem Film erkennen kann, dass sie sich nicht selbst entscheidet, die Schicksale ihrer Mitmenschen zu ignorieren, sondern einfach nicht in der Lage ist, Empathie zu empfinden. Darin erinnert sie mich an Mary Crawford (Mansfield Park) und Abigail Williams (The Crucible). (Man muss erwähnen, dass Empathie bei Teenagern noch nicht vollständig ausgeprägt ist, aber bei ihr fehlt sie völlig) Man kann sie nicht wirklich mögen, klar, aber ob man ihren Charakter faszinierend finden kann, ist ein entscheidendes Kriterium dafür, ob einem der Film gefällt oder nicht.
Die Handlung, die sie umgibt, ist auch nicht übel: Zu entscheiden, zu welchem Elternteil man im Falle einer Scheidung halten soll und diese Entscheidung eventuell dann zu bereuen, ist so ein Moment, der Rikakos Charakter einen kurzen Moment sympathsicher wirken lässt. Gleichfalls gewinnt dieser Gedanke nicht die Überhand: Als Rikako Taku eine Ohrfeige gibt, wird ihm ihr Vehalten zu viel und er ohrfeigt sie zurück. Anders als bei vielen anderen japanischen Medien tritt dieses Zurückschlagen überhaupt auf und wird auch nicht negativ in Szene gesetzt - eine überraschend gesellschaftssubversive Szene!
Nun müssen wir aber über das Ende der Handlung reden. Nach einem Zeitsprung ins Unialter wird die Geschichte schnell beendet: Taku erfährt, dass Rikako sich erst am vorherigen Tag bei ihm erkundet hat und er sieht sich das beleuchtete örtliche Schloss an. Dabei denkt er sich, wie gern er jetzt Rikako bei sich haben würde und es beginnt ein Flashback von all den Sachen, die sie zu ihm gesagt hat. Das ist die Szene, die mir wohl am meisten in Erinnerung bleiben wird. Nein, nicht weil sie gut ist, sondern weil ich dort in schallendes Gelächter ausgebrochen bin. Jede einzelne Zeile, an die er sich erinnert, ist entweder eine Zurechtweisung, völlig irrelevant für eine Beziehung ("Ich hab' grad' meine Regel!") oder eine Beleidigung. Untermalt wird diese Tirade von Klaviermusik, die schließlich zu einer romantischen Saxophonnummer anschwillt. Nachdem er mit seinem Flashback fertig ist und sich auf den Rückweg zu seiner Unistadt macht, sieht er dann Rikako am Bahnsteig, rennt zu ihr und... der Film endet mit einem letzten voice-over, dass Taku erkennt, dass er wohl schon immer von Rikako fasziniert war. Nun, was will uns der Film sagen? Sicherlich kann man einige Theorien aufstellen:
Möglicherweise ist es die psychologische Reise eines jungen Mannes, seinen Fetisch nach verbaler Degradierung festzustellen. Das ergibt überraschend viel Sinn, wenn man drüber nachdenkt. Und es ist der einzige Weg, die Schlüsselszene am Ende auch nur im entferntesten als positiv zu sehen. Natürlich bezweifle ich, dass das die Moral eines Ghibli-Films wäre, aber hey, alles ist möglich~. Um ehrlich zu sein, ist das die einzige Möglichkeit, in der ich das Ende als positiv und hoffnungsvoll beschreiben könnte.
Nun, was ist noch möglich? Die simpelste Möglichkeit ist, dass alle Emotionen, die der Film auslöst, auch so geplant waren. Was heißt das? Nun, ich denke, in dem Fall ist der Film eine düstere Dekonstruktion des Tsundere-Archetyps. (Hier kommt das Psychodrama rein!) Taku sieht in Rikakos Aggression gegen ihn eine versteckte Liebe, die er nur aufdecken muss. (Ich kann sie ändern!) Die romantische Musik, die dem Flashback von Rikakos Tiraden unterliegt, gibt Takus echte Gefühle wieder: Er interpretiert selbst ihre Tiraden und Hassreden gegen ihn als potentielle Liebe - und so ist der Film ein Statement gegen Missbrauch in Beziehungen - hier mit Täterin und männlichem Opfer, was besonders selten thematisiert wird. Rikako hat am Ende ein paar Jahre ihre Freiheit genossen hat und einen Uniabschluss in der Tasche hat und so ist die letzte Szene kein Triumph der Liebe, sondern der Moment, in dem ihre Falle zuschnappt!
Nun, eine dritte Möglichkeit bleibt offen. Dafür müssen wir uns die Freundschaft zwischen Taku und Yutaka anschauen und hier muss ich was erzählen. Heute nachmittag wurde mir per Youtube-Algorithmus ein Video empfohlen:
Ocean Waves - Studio Ghibli's (Accidental) Queer Film. Ich weiß nicht wieso - ich weiß nicht warum. Ich habe nie auf Youtube nach dem Film gesucht... Na ja, ich habe mir das Video natürlich nicht angeschauen, bis ich fertig war, aber der Titel ist mir im Kopf geblieben. Der Typ vom Video war nicht so angetan vom Film wie ich, aber darum geht's ja nicht~. Sondern um seinen Punkt, bzw. den der Kommentare unter dem Video.
Oh ha, wird man sich denken, jetzt fängt er
damit an. Aber wartet eine Sekunde, ich kann alles erklären. Der Titel hat tatsächlich einige Momente enthalten, die man, wenn man so will, als romantische Gefühle zwischen Taku und Yutaka zeigend interpretieren kann, ("Ich empfinde für ihn anders als für meine anderen Freunde" So was halt - Stoff für die Doujins halt) aber das gibt's ja häufiger und dafür mach ich kein Fass auf, keine Sorge. Das Problem ist halt, dass kurz vor der Schlossszene Taku und Yutaka aufeinandertreffen. Yutaka war früher in Rikako verknallt, sie hat ihn abgewiesen und er hat seine Frustrationen an Taku abgeladen. Dafür entschuldigt er sich und Taku möchte ihn zu einem Spaziergang einladen. Und da landen sie nun auf einem verlassenen, steinernen Pier und schauen sich gemeinsam den Sonnenuntergang an - ein Ort, wohlgemerkt, den sich Taku ausgesucht hat. Und dann fängt das Saxophon an (wohlgemerkt sehr ähnlich zu dem in der Schlossszene, also in der Szene, die den romantischen Höhepunkt symbolisieren soll) und ich denke mir:"Okay, spätestens jetzt ist das Absicht" Yutaka sagt ihm, dass er wütend war, weil Taku sich wegen ihm zurückgenommen hätte und dass er stets wusste, dass Taku Rikako mochte. Es ist schon wichtig, zu beachten, dass Taku ihm keine Antwort gibt... Nun ja, dann kann man den Rest der Handlung damit erklären, dass Taku sich zwingt, Rikakos Verhalten retroaktiv als liebevoll zu interpretieren (Das Saxophon...) um seine Gefühle für Yutaka und seine Sexualität im Allgemeinen (Muss ja auch kein Entweder-Oder sein - Bisexualität ist auch möglich, dann kann noch eine Vermischung mit den beiden ersteren Interpretationsmöglichkeiten auftreten) zu überspielen. Das Ende ist dann immer noch negativ, aber zumindest kein Horror wie in Möglichkeit 2. Nun denn, wie man das Ende interpretiert, ist schlussendlich subjektiv~.