Für die Nichtkundigen hallt es wie leeres Geschrei von den Dächern: Der Comic ist tot, die Jugend liest Manga. Am besten noch so werkgetreu wie möglich. Von hinten nach vorne und von rechts nach links. Dabei ist der Begriff Manga doch nur eine Metakategorie für eine Vielzahl von Genres. Dass hier in Deutschland zunächst einmal nur eine geringe Anzahl dieser Genres veröffentlicht wird, dürfte damit jedem klar sein. Die Frage ist nur, wann sich die Verlage an die anspruchsvolleren Formen heranwagen? Nun erscheinen die ersten zaghaften Versuche in dieser Richtung. Sozusagen die Graphic Novels unter den Manga. Huch, da fließt zusammen, was zum Comic gehört.
Der in Japan lebende Franzose Frédéric Boilet, kreierte eine Bewegung welche sich Nouvelle Manga nennt. Dazu hat er eigens ein äußerst interessantes und lesenswertes Manifest (bei
boilet.net) geschrieben. Boilet trennt zwischen Mainstream und Autorencomic, wobei er sowohl in Frankreich, USA und Japan die selben Tendenzen sieht. Der Autorencomic grenzt sich vom Mainstream insofern ab, als dass er keine Stereotypen und nicht die immer gleichen nostalgischen Referenzen benutzt. Im Autorencomic geht es um die Vermittlung von anderen, erwachseneren Inhalten und Erzählformen des Comic/Manga/BD.
Die Zeichnerin Kiriko Nananan (Jahrgang 1972) passt wunderbar in dieses Konzept, denn sie macht Josei-Manga. Josei ist für junge erwachsene Frauen gedacht, zumeist von Frauen gezeichnet. Demnach behandelt auch "Blue" vordergründig die Geschichte zweier Mädchen, die sich im letzten Schuljahr näher kommen. Es ist die Zeit der Orientierung nicht nur in Hinsicht auf einen beruflichen Werdegang, sondern auch in sexueller Hinsicht. Es geht um die Unsicherheit von Gefühlen. Und es geht noch um viel mehr in diesem Band. Es ist ein Roman über die Wahl zwischen Tradition und Freiheit. Nananan zeigt äußerst behutsam die Gefühle der beiden Protagonistinnen und ganz sachte deckt sie die Dinge hinter der Oberfläche auf. So entsteht ein beinahe intimes Porträt der einzelnen Figuren und zugleich ein Bild der adoleszenten, modernen japanischen Gesellschaft.
Die Zeichnungen dazu sind stilistisch hochgradig ästhetisch. Nananan benutzt sehr klare Linien und kontrastreiche Kompositionen. Durch die Reduzierung auf die handelnden Figuren und den weitestgehenden Verzicht auf Hintergründe entsteht eine geradezu leise Erzählung. Nananan schafft es eindringlich die Leere zwischen den Personen darzustellen, eine Leere, die sich nicht mit Worten beschreiben lässt.
"Blue" ist ein ganz und gar außergewöhnlicher Manga. Er ist grafisch von hoher Intensität und erzählerisch von geradezu minimalistischer Strenge. Mit diesem Band hat das Unterlabel Shodoku von Schreiber&Leser ein kleines Juwel im Programm.
Doch das wird nicht der einzige Versuch bleiben, den etwas anderen Manga in Deutschland zu etablieren. Der Autorencomic lebt und blüht auf. Auch aus Japan werden noch einige Preziosen der grafischen Erzählung auf die deutschen Leser zukommen. Versprochen!