Eine Weile lang – sie war sich selbst nicht sicher, ob nur wenige Sekunden oder gar mehrere Minuten – hielt Willow ihre Augen geschlossen, wartete darauf, dass ihr Puls sich verlangsamte, ihre Atmung sich beruhigte. Als sie schließlich die Augen wieder öffnete, schien der Nebel bereits so dicht zu sein, dass sie selbst die Hand vor Augen nicht mehr erkennen würde. Doch dann bemerkte sie eine lichte Stelle in den Schwaden, durch die sie einen Blick auf einen düsteren, fensterlosen Raum mit der Grundform eines Halbkreises werfen konnte. Wände aus Sandsteinquadern, die von einer Bordüre mit ägyptischen Zeichnungen gesäumt waren, verrieten Willow, dass es sich um einen Raum inmitten des Chephrentempels handeln musste. Darin befanden sich hölzerne Regale, in denen Bücher und keramische Gefäße standen sowie zwei Steintische mit allerlei Töpfen und andere Utensilien wie beispielsweise Schalen mit toten Insekten, getrockneten Pflanzen oder auch Tierknöchelchen ... es fiel der Hexe nicht schwer zu erkennen, dass sie hier in die Arbeitsräumlichkeiten einer Magiekundigen blickte. Doch während sie zuvor die Szenerien ihrer Träume selbst durchwandert hatte, war es diesmal vielmehr so, als sehe sie durch ein Fenster in diesen Raum.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte sie, dass zwischen den beiden steinernen Tischen der Körper einer Frau lag, deren runde Hüfte von Leinen verdeckt wurde, während ihre üppigen Brüste unbedeckt waren. Die zahlreichen Perlenketten, die nach ägyptischer Tradition den einzigen Schmuck des weiblichen Oberkörpers bildeten, lagen teilweise abgerissen auf dem Boden, teilweise zwar noch um den Hals der Frau, bedeckten aber, da sie offenbar gestürzt war, nicht länger ihren Busen. Ihr Gesicht war gen Boden gerichtet, die braunen, vollen Haaren waren somit das einzige, was von ihrem Haupt zu sehen war.
Willow sah neben der niedergestreckten Frau einen zuckenden Schatten, den das unregelmäßige Licht der wenigen Fackeln im Raum auf dem Boden hin und her tanzen ließ. Doch die Person, die ihn warf, war außerhalb des Blickfeldes, welches die Nebelschwaden ihr eröffneten.
Dann hörte sie eine Stimme hinter sich: „Ich lebe, also sorge dich nicht. Noch hat die Dämongewordene ihre Aufgabe nicht erfüllt.“ Als Willow herumschnellte, sah sie eben jene Frau vor sich, die in dem Raum hinter den Nebelfeldern am Boden lag. Ein goldenes Band auf ihrer Stirn trug das Auge des Horus.
Lesezeichen