Auf dem Neos verschollen
Im April 1959 haben die Mosaikleser eines der interessantesten Hefte in der Hand. Es vereint auf eine merkwürdig geniale Weise Zukunftsvisionen technischer und architektonischer Art, real existierende Stadt- und Verkehrsplanung (ohne Rücksicht auf Ländergrenzen und Gesellschaftsordnungen) mit dem Zeitgeist der 50er Jahre. Für Spannung sorgt der kriminelle Hintergrund unserer Geschichte. Der Enthüllungsjournalismus des Rasmus Rotter ist eine Hommage an den 1948 verstorbenen "Egon Erwin Kisch", einer meiner absoluten Favoriten im Bücherschrank. Und der Humor? Also der kommt nun wirklich nicht zu knapp! Angefangen bei der coolen Antwort auf Tantchens Frage: "Hast du auch die Handbremse angezogen?", auf die der liebe, aber genervte Neffe antwortet: "Nein, die Badehose, zum Kuckuck!", über die lustige Verkleidungsnummer mit Kaffeekränzchen und bösem Erwachen bis zu den Lachern, die man beim genauen Betrachten des Infrastruktursystems auf dem Neos kaum unterdrücken kann. Hier haben echte "Comicer" ihrem Affen gründlich Zucker gegeben.
Natürlich erwartet euch in den nächsten Tagen noch mehr zu diesem - und den technischen Themen, doch zunächst einmal wollen wir uns ein bißchen mit der Handlung und seinen Parallelen in der DDR-Gesellschaft dieser Zeit beschäftigen - also noch nicht das ganze Pulver verschießen.
Schon das Cover zeigt nicht nur einen etwas neidischen Blick auf westliche Metropolen (ich konnte leider keines Vergleichsbildes habhaft werden - auch nix passend-nächtliches aus WB, @pteroman), die man sich mit ihrer aufdringlichen Neon-Werbung scheinbar auch ganz gut für eine Gesellschaft der Zukunft vorstellen wollte. Konsum, Vergnügen, Tourismus & Reisen und die Begegnung von Menschen scheinen im Vordergrund zu stehen. Selbst Rasmus Rotter scheint vom Glimmer der Fassaden, hinter denen sich kaum eine sonderlich zukunftsweisende Architektur verbirgt, geblendet zu sein. Ein reges Treiben auch außerhalb der City. Die Automatik-Zentrale (warum auch immer sie so heißen möge) scheint mit ihrer Tortenform als Cafe und Hotel eine beliebte Oase im wohlorganisierten Verkehrsdschungel zu sein. Die schlimmsten amerikanischen Auswüchse im Automobil-Design haben sich durchgesetzt, aber, wie wir später sehen werden, auch zukunftsträchtige Entwicklungen der Verkehrssicherheit. Das trifft leider nicht auf den Diebstahlschutz zu - aber wer rechnet in einer fast perfekten Gesellschaft auch mit Dieben, Spionen und Entführern?
Wer dagegen schon einmal einen recht umfangreichen Blick auf die Entwicklung einer sozialistischen Großstadt in der DDR werfen möchte, dem sei eine Internetseite empfohlen, die, abgesehen von ihrer überdimensionalen Größe, kaum Wünsche offen läßt: Die Deutsche Fotothek in der in der Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Von den ca. 2 Mio. Aufnahmen dieser Sammlung sind tausende Architekturfotografien der Stadt Dresden online - und mehrfach vergrößerbar. Dresden ist insofern sehr interessant, da die Stadt im 2 Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde. An vielen Stellen, später auch beim Neubau der Prager Straße, wird deutlich, wie nach dem Tod Stalins die architektonische Phase des nationalen Bauens zögernd beendet wurde und Städteplaner wie auch Architekten den Blick unverholen gen Westen richteten. Dabei wurden Traditionen nicht verschwiegen und alte Funktionsmischungen der Vorkriegsbebauung wieder aufgenommen. Die Großbaublöcke in Plattenbauweise öffneten sich ausschließlich nach innen, zum Fußgänger hin, während der Verkehr in breiten Bändern umgeleitet wurde. Vergleichbar auch mit Konzepten der Rotterdamer Lijnbaan (1952 gebaute, erste Fußgängerzone der Niederlande).
Ganz nebenbei stößt uns Rasmus Rotter, der die Digedags aus den Klauen der Mac.Gipsfiguren befreit, auf die stark politisch gefärbte Debatte um die Kunst der Moderne in den 50er Jahren. Allerdings bin ich gerne bereit zuzugeben, daß ich selbst auch nie einen wirklichen Draht zu modernen Kunstrichtungen wie Expressionismus, Kubismus, abstrakte Kunst oder Pop Art hatte (allerdings auch nicht zum sogenannten "sozialistischen Realismus"). Indes wissen wir aber nun, daß solche Künstler ihren Lebensunterhalt weniger durch die Schaffung verkäuflicher Werke als mehr durch kriminelle Machenschaften wie Spionage bestreiten. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht bemerkenswert, daß im Erscheinungsmonat April 1959 die 1. Bitterfelder Konferenz über kulturpolitische Probleme unter dem Motto: "Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht Dich!" abgehalten wurde (Beginn einer kulturpolitischen Phase, die auch als "Bitterfelder Weg" bezeichnet wird). Die Schriftsteller wurden aufgefordert, in die Betriebe zu gehen, um dort die Situation der Arbeiterklasse praktisch kennenzulernen, um dann ihre Erlebnisse und Erfahrungen in einem sozialistisch-realistischen Werk Ausdruck zu verleihen. Die Arbeiter wurden aufgefordert, in " Brigadetagebüchern" ihren mehr oder weniger heroischen Alltag zu beschreiben.
Beilage zum Heft 29: Wieder eine Geschichte aus dem Alltag Junger Pioniere in der Tradition voran gegangener Beilagen. Diesmal geht es um Fritz, den Neuen in der Klasse, der niemals seine Hausaufgaben macht und immer zu spät kommt. Schnell wird er zum Sorgenkind seines Klassenlehrers, schnell sind Vorurteile auch bei den Mitschülern aufgebaut, die ihn des Diebstahls verdächtigen. Aber die besten Jungpioniere spielen nach der Schule Detektiv. Sie finden heraus, daß Fritz kein Dieb sein kann und ihm wirklich die Zeit zum Lernen fehlt, weil er auf seinen kleinen Bruder Kurt achtgeben muß. Spät abends geht er dazu noch in die "Lehre?" zum Monteur! Nachdem die Mutter einwilligte, Kurt in den Kindergarten zu bringen, hat Fritz genügend Zeit zum Lernen und wird es nun nach Ansicht seines Klassenleiters noch weit bringen. Er habe gute Aussichten, später Ingenieur zu werden. Abgründe tunen sich für mich auf! Zum Glück hatte ich andere Lehrer, Mitschüler und Eltern! Wird hier etwa (unbezahlte?) Kinderarbeit hochgelobt? Genügten in den 50er Jahren Vaters Beziehungen als Tankwart nicht aus, um eine Lehrstelle zu bekommen? Zugegeben, auch ich habe mal im Betrieb meiner Eltern das Taschengeld aufgebessert. Das war aber nicht, um dort lernen zu können - und es war in den Ferien! Und daß die Zicke Sabine nun auch noch Unterstützung für ihre fiesen Anschuldigungen erhält - ist doch das Letzte! Na ja, die Nachschnüffelei (besonnen, aber indirekt vom Lehrer gefordert) hat ja noch was Gutes gebracht, denn als Babysitter ist Fritz nämlich ne Niete. Ach ja, wie hilfreich kann doch ein funktionierendes Pionierleben sein - bei uns gab es immer nur Lacher in der Klasse, wenn jemand permanent zu spät zum Unterricht kam.
Was im April 1959 sonst noch so passierte:
- Premiere des bundesdeutschen Spielfilms "Hunde, wollt ihr ewig leben!" von Frank Wisbar (1902-1967), der eine Aufarbeitung der Schlacht um Stalingrad 1942/43 zum Inhalt hat.
- Bundeskanzler Konrad Adenauer gibt seine Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten bekannt. Im Juni erklärt er allerdings seinen Verzicht auf die Kandidatur, und Heinrich Lübke wird als Kandidat der CDU/CSU aufgestellt.
Otto Grotewohl bietet Bundeskanzler Adenauer Vorverhandlungen über einen Friedensvertrag an.- In Dresden werden fünf Studenten, die gegen die politischen Verhältnisse in der DDR protestiert haben, zu Zuchthausstrafen bis zu zehn Jahren verurteilt.
- In der Essener Grugahalle findet das erste internationale Jazz-Festival an Rhein und Ruhr, die "Essener Jazztage", statt.
- In Frankfurt/Main wird das Haus der "Deutschen Bibliothek" eingeweiht, das bis zur Wiedervereinigung Deutschlands die Aufgabe einer Nationalbibliothek erfüllen soll.
- Uraufführung des Dramas "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" von Bertolt Brecht in der Inszenierung von Gustaf Gründgens im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.
Weitere Berliner Schlagzeilen des Monats:
- Auf dem Gelände der 1931 erbauten, in der »Reichskristallnacht« und später durch Bomben zerstörten, Synagoge wird am Fraenkelufer 10-16 (Kreuzberg) die neuerbaute Synagoge feierlich eingeweiht.
- Eine Delegiertenkonferenz der SED der Westberliner Bezirke bildet eine Leitung der Westberliner Parteiorganisation der SED und wählt Gerhard Danelius zum Sekretär.
Wer Zeit und Lust dazu hat, ist nunmehr eingeladen, sich der Suche nach den Digedags anzuschließen. Noch sind sie "Auf dem Neos verschollen"! Interessant könnte es auch für Städteplaner, Architekten, Designer und Kunstliebhaber werden.
Bitte nicht vergessen: Zur Einstimmung gibt es die witzige Zusammenfassung des ersten Neos-Kontaktes auf der Homepage von Orlando. Im Archiv von Tangentus wird der Inhalt wie immer auf den Punkt gebracht.
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