CRAIG THOMPSON
Erlebnistuscher
Die "Empirie" der Wissenschaft ist etwas grundsätzlich anderes als die "Erfahrung" der Kunst. Während erstere sich auf epistemisch sauber voneinander isolierte Päckchen verteilen läßt, die jeweils einer präzis definierten Fragestellung zugeordnet sind, zieht letztere Fäden wie Honig oder Pizzakäse, verbindet Erinnerung und momentane Wahrnehmung und enthält entschieden mehr Sentiment als Beweiskraft.
Der Comicroman "Blankets" des 1975 geborenen Craig Thompson aus Portland, der soeben beim Speed-Verlag auf deutsch erschienen ist, hat eine hochadäquate graphische Form für diese Sämigkeit künstlerisch behandelter Erlebnisse gefunden: Tusche, mit Aquarellierpinseln auf Papier aufgetragen, viel Weißraum, winterliche Anmutung, staunende Klarsicht auf alles Vergangene, als kristalliner Gefühlsrückstand nichtsdestoweniger Gegenwärtige. Thompson hat an der beeindruckenden gestischen Freiheit dieses hochexpressiven Stils hart gearbeitet: Jede der mehr als fünfhundert Seiten wurde zunächst traditionell mit Bleistift und Tinte vorentworfen, dann erst ging es ans Pinseln. Die Geschichte, die so erzählt wird, folgt dem Muster des Entwicklungsromans: Der mühelos als abstrakte Maske des Autors erkennbare Held überlebt eine bedrückende, religiös gegängelte und ästhetisch depravierte Kindheit, verliebt sich in eine hochkomplizierte junge Außenseiterin, die ihn dazu anregt, sein bisheriges ödes Leben ordentlich kaputtzuschwärmen, und erleidet, weil ihn von Haus aus nichts darauf vorbereitet hat, sein unvermeidliches künstlerisches Erwachen, anstatt es zu genießen.
Angestrebt - und weitgehend erreicht - wird dabei so etwas wie ein "sozialisierter Subjektivismus": Der Abenteurer in Liebe und Kunst, um den es hier geht, ist ein Ergebnis der von ihm erlebten Berührungen durch andere Menschen, die dabei nie in dem aufgehen, was die karikaturistische Annäherung an ihre Idealgestalt andeutet. Wie die Lyrik der Hochmoderne sozusagen metaphorisch kalligraphisch - mit einem Wort Ezra Pounds: "ideogrammatisch" - werden mußte, nämlich die Reflexion über Wortgestalt, Layout und so fort in sich aufnehmen mußte, wird der Comic heute, nicht nur bei Thompson, aber da besonders, schön, umgekehrt klassisch erzählerisch, romanhaft.
Das Buch, mit Lob von "Time", der "New York Times Book Review" und "Publishers Weekly" reich beschenkt, kommt einem, wenn man erfährt, wie jung sein Schöpfer ist, fast ein bißchen zu reif vor; als habe dieser noch nicht Dreißigjährige mit allem Menschlichen schon so lächelnd und entsagungsvoll abgeschlossen, wie wir das erst von Altmeistern erwarten. Bei Thompsons gegenwärtigem Deutschlandbesuch kann man sich aber überzeugen, daß daran nichts stimmt. Denn der Mann spricht zwar leise und erfüllt freundlich und klaglos Leserwünsche nach Zeichnungen und Signaturen, staunt aber doch empfänglich genug darüber, wie groß etwa Frankfurter Comicläden von innen aussehen, und behauptet schließlich hörbar nur deshalb, er sei müde, weil er in Wirklichkeit exakt so nervös, aufgescheucht und gierig nach Eindrücken ist, wie sich das für junge Zeichner, Erzähler, Augen- und Geschichtenmenschen gehört, von denen man sich bewegen lassen mag.
DIETMAR DATH
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