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Wenn seit dem letzten Comic-Salon Erlangen ein Phänomen den Markt umgewirbelt hat, dann war das die endgültige Durchsetzung der Manga-Mania im Kinder- und Jugendbereich. Sie bäumte sich über ihn wie die berühmte Woge auf dem Holzschnitt des japanischen Künstlers Hokusai. Mit Manga hat Hokusai tatsächlich einiges zu tun. Er nannte nämlich seine Skizzenbücher so. Das Wort setzt sich im Japanischen aus den Bestandteilen "man" für "schnell, flüchtig, spontan" und "ga" für "Bild" zusammen. "Schnellbilder" sind Manga also, schnell gezeichnet, zur schnellen Lektüre bestimmt. Es ist die japanische Bezeichnung für Comics - zur Information für jene, die es immer noch nicht wissen.
Manga sind ein ganz weites Feld mit ganz vielen Pflanzen - von solchen mit künstlerischem Anspruch bis zu platter Massenware, von philosophischen Essays bis zu Pornoproduktionen. Ebenso wie Manga seit den späten 80er Jahren nach Amerika und Europa ausgriffen und damit zu einer Weltmacht der Bildergeschichten wurden, haben die japanischen Produzenten versucht, Künstler aus den USA und Europa für ihre rasante Erzählform zu gewinnen. So richtig hat das aber nicht funktioniert. Es funktioniert eher anders herum. So zeichnen wegen der großen Nachfrage aus den Kinderzimmern nun erste deutsche Künstler für deutsche Verlage im Manga-Stil. Das heißt, sie müssen jene Erzählrichtung bedienen, die von den Kunden besonders gewünscht wird: den Schüler- und Studentenmanga für pubertäre Allmachtsträume und Sexualphantasien.
Ein typisch japanisches Original für diese Richtung ist "Wedding Peach", gezeichnet von Nao Yazawa, getextet von Sukehiro Tomita. Darin geht es um ein Mädchen aus der 7. Klasse, das in einen Liebesengel verwandelt wird und die Erde auch noch vor Dämonen beschützen muss. Es geht, wie in den meisten entsprechenden Manga, um Schwärmerei und Liebe und Eifersucht und darum, wie man an die schönsten Jungen kommt. Und es wimmelt von übersinnlichen Wesen, die der pubertätsgeschüttelten Heldin in ihren erotischen Verwirrungen zu Hilfe kommen oder sie bedrohen. Gezeichnet ist die Geschichte in jenem bewährten Stil, der zwischen floraler Ornamentik, nüchterner Sachlichkeit und karikierender Verfremdung changiert und immer wieder sehnsüchtige übergroße Augen, lange Beine mit Strumpfbändern und zierliche Dekolletes in den Blick rückt.
Da die Stilformen vieler Manga sehr prägnant und standardisiert sind, also ähnlich dem amerikanischen Superhelden-Comic früherer Tage wenig eigene Handschrift eines Künstlers zulassen, sind die Standards unschwer zu imitieren. Und das Nachzeichnen und in vorgegebenen Umrissen durchaus auch Selbsterfinden gehört zur Rezeptionshaltung des jugendlichen Publikums. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass mit Robert Labs ein knapp Zwanzigjähriger nun den deutschen Manga "Dragic Master" im Auftrag eines großen deutschen Verlags auf den Markt bringt. Von Labs weiß man nicht viel mehr, als dass er 1982 in der Westmongolei geboren wurde und jetzt in Deutschland lebt. Er benutzt eine relativ großflächige Seitenaufteilung, in die er die Panels expressiv und variantenreich integriert. Dabei gibt es immer wieder Körperstudien, die über eine ganze Seite hinweg die Erzählsituation dominieren. Labs betont die erotische Komponente der Manga außerordentlich. Gegen moralisierende Einwände wappnet er seine Leserschaft durch einen kommentierenden Minimanga, der die Handlung an einer besonders saftigen Stelle unterbricht und zeigt, wie eine protestierende, "hysterische Mutter" kurzerhand von einem Monster gefressen wird.
Manga dieser Kategorie sind im Grunde ein sehr postmodernes Phänomen. Sie scheinen Handlung durch Multiperspektivität zu beschleunigen, legen diese Handlung selbst allerdings nur fragmentarisch und spurenhaft an. Das ist beim zweiten aktuellen Manga aus deutscher Produktion nicht anders. "Naglayas Herz" wird getextet von Stefan Voß und gezeichnet von dem 34jährigen Designer Sascha Nils Marx. Für eine ungefähre Einordnung der Handlung genügt der Klappentext. Sie wird in ihrem Verlauf ohnehin nur "momentan" repräsentiert und lässt Kontinuität weitgehend vermissen. "Naglayas Herz" ist in der beliebten Fantasy-Zone angelegt, in der dann gern Engel oder, wie in diesem Fall, Elfen zu Helden werden. Sascha Nils Marx bringt auf den Seiten viel kleinteiligere Figuren und Elemente unter als Robert Labs, verwendet Raster, Schraffuren, Grauflächen, um Volumen und Tiefe anzudeuten. Seine Figuren mutieren allerdings auf mangatypische Weise immerfort zwischen Kinder- und Teeny-Status, was das auch hier vorhandene Spiel mit erotischen Reizen in ein merkwürdiges Zwielicht rückt. Aber eine Qualität von Manga ist, dass sie sich kaum je hundertprozentig ernst nehmen. Sie benutzen tatsächlich eine an Brecht geschulte Erzähltechnik, die den Leser immer wieder augenzwinkernd in die selbstreflexive Distanz zwingt und ihm bewusst macht, dass er bei der Lektüre zwar Stoff für seine Träume inhaliert, dass die Realität aber etwas ganz anderes ist.
(Herbert Heinzelmann)
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