User Tag List

Ergebnis 1 bis 5 von 5

Thema: Karin

  1. #1
    Mitglied
    Registriert seit
    11.2005
    Beiträge
    399
    Mentioned
    0 Post(s)
    Tagged
    0 Thread(s)

    Karin

    Karin


    Der kühle Ostwind hatte bereits Ende Oktober riesige Schneemassen in unser Tal transportiert, viel zu früh, und schon tauten sie wieder ab. Im Stadtwald war ein Geräusch, als wenn tausende Wasserhähne tropften. Vereinzelt lagen Schneeplacken herum wie eine versprengte Schafherde. Und mit der aufkommenden Dämmerung schlichen graue Dunstschwaden umher.


    Etwas Luftbewegung kam auf und vertrieb den Nebel. An den Ästen der Bäume klammerten sich noch einige Blätter mit den Resten ihrer versiegenden Lebenskraft; in den Wipfeln säuselte ein leichter Wind, und für einen Moment war mir, als hörte ich eine weibliche Stimme meinen Namen rufen: „Enno, Enno – gogo!“ Wanderer hatten immer wieder von einer umhergeisternden Karin berichtet.

    Hinter einem verwaisten Hausbrunnen schlenderte ich über eine Wiese, die abschüssig an einem Bachlauf endete. Inzwischen verzauberte der Halbmond mit seinem gedimmtem Licht die Landschaft. Bauchhoch versank die Flur in silbernen Nebelschleiern. Wie durch ein Getreidefeld watete ich darin herum, blickte staunend über die dunstende Fläche weit hinauf in einen gigantischen Himmel. Die Sterne schienen der Erde ganz nahe; so tauchte ich ein in die Unbegreiflichkeit dieses endlosen Raumes.

    In der Feuchtwiese am Waldrand war es still. Zarte Nebelgespinnste krochen den Boden entlang, und etwas später hinter einer Anhöhe tauchten in der Ferne verschwommen die Lichter von einem Bauernhof auf. Ruhig und verschlafen lag er da, wohlig an den Süllberg hingeschmiegt.

    Auf der einzigen Bank dort saß eine engelsgleiche Gestalt; dass also war Karin. Nach einer Weile stakste sie davon, zog das rechte Bein etwas nach. Über einen verwilderten Pfad quälte sie sich hinauf ins Gebirge.

    Mein Atem ging schwer und Greif, mein Hund, ein Kromforländer, stellte urplötzlich einem Hasen nach, hetzte einen Moment hinter ihm her, vorbei an einer jämmerlichen Esche, ließ aber genauso schnell wieder ab von seiner Jagd. Aus Greifs hechelnder Schnauze stoben wie aus einer Dampfpfeife winzige Wolken hervor. Durchs dichte Unterholz von der Anhöhe her brannten sich Karins Augen wie zwei glühende Kohlen in die Nacht, und über uns plötzlich die klagenden Schreie verspäteter Wildgänse, die rasch am Halbmond vorbeiflogen, unwirklich, aneinandergebundene Papierdrachen, die magisch davongezogen wurden.

    Dann verlor sich ihr Anblick, während Greif unruhig knurrte und fiepste, mich kurz fragend anschaute. Mit meinem Nachtglas erspähte ich einen Sprung Rehe auf der gegenüberliegenden Seite des Baches, auf einem dieser liederlich abgeernteten Stoppelrübenfelder. Ab und zu schnellte eins ihrer Häupter mit langem Hals und gespitzten Lauschern empor, verharrte eine Weile wie versteinert und tunkte ruckartig wieder in die Nebelschicht hinein. Mein Hund beruhigte sich wieder. Ich aber war sehr nervös, denn es ging die Legende, dass keiner Karins bösem Blick widerstehen könne.

    Greif drängte nach Hause, ich folgte müden Schrittes. Unser einsames Gehöft am Rande des Tales erschien vom weitem wie ein riesiger Scherenschnitt. Eine Schleiereule schwebte dicht über uns hinweg, wir schreckten auf, denn ihr leichter Luftzug und ihr Schatten überraschten uns wie ein Schlag aus dem Nichts; sie glitt weiter um den Giebel des Hauses und es hörte sich an, als würde sie meinen Namen rufen: „Enno, Enno – gogo!“

    Fröstelnd öffnete ich die Eichentür zu meiner Diele; eine heimelige Wärme strömte uns entgegen.

    Am Kamin saß Karin, der schmale Körper verschluckt von einem zu groß geratenen, alten Mantel, aus dem dies bleiche zierliche Gesicht hervor lugte, von seidigen blonden Haaren umfangen. Ich verspürte einen unfehlbaren Instinkt in mir, und wusste sofort, es wäre sinnlos sich zu wehren oder davonzulaufen.

    Mit einem Kartoffelschäler trennte sie mir ein Auge raus, zerhackte blind vor Wut meine Beine, sowie man es vor Jahren mit ihrer Tochter getan hatte, nachdem sie vergewaltigt worden war. Man konnte nie den Täter ermitteln. Karin hatte damals mit ihrem Leben Schluß gemacht.

    Von Draußen der Ruf eines Kauzes und hier in der Stube Greifs Winseln. Nun beende ich meine Aufzeichnung, lege den Stift beiseite und mich zum Sterben, wie alle Wanderer, die Karin früher oder später begegnen und von ihr hingemetzelt würden oder doch nur Opfer einer grundlosen Angst sind, wie das Rotkäppchen, das in Wirklichkeit nicht vom Wolf (die mögen keine Menschen) verschlungen worden war, sondern von ihrer Furcht vor jenem.




    Geändert von Epiklord (04.02.2014 um 14:25 Uhr)

  2. #2
    Mitglied
    Registriert seit
    05.2008
    Beiträge
    92
    Mentioned
    0 Post(s)
    Tagged
    0 Thread(s)
    Hi,

    ich denke mal, dass du die Geschichte hier für Feedback veröffentlicht hast. Das würde ich dir hier gerne geben.

    Wenn ich das richtig sehe willst du eine Gespenstergeschichte schreiben.
    Zuerstmal deine Naturbeschreibungen sind schön atmosphärisch und ich finde sie sehr gelungen.
    Das Hauptproblem sind der Erzähler und die Erzählstruktur.
    Die Handlung selbst ist theoretisch schön chronologisch, aber das passt in diesem Fall der Geschichte nicht.
    Nimmt man das Ende und das was dort passiert, ergibt es keinen Sinn das der vorhergegangene Text mit so poetischen Worten beschrieben wird. Jemandem dem die Augen mit einem Kartoffelschäler entfernt und die Beine zerhackt wurden der wird wohl in seinen letzten Minuten weder die Kraft nich die Ruhe haben seine Erlebnisse und eine Legende aufzuschreiben. Vermutlich würde er schreiend und sich windend auf dem Boden liegen.

    Wanderer hatten immer wieder von einer umhergeisternden Karin berichtet.“
    Die Hauptfrage die sich hier dem Leser stellt ist: wer oder was ist eine Karin und was ist so besonders daran sie im Wald zu treffen? Das sie ein Gespenst ist wird später klar, aber erstmal wirkt es nur verwirrend.

    Wie schon gesagt ist die Erzähstruktur eher unpassend für deine Geschichte. Um Schauer und Grauen bei deinen Lesern zu erzeugen würde ich dazu raten die Geschichte anders aufzuziehen. Vielleicht schreibt der Erzähler die Geschichte von Karin auf nur um dann bei einem Waldspaziergang auf sie zu treffen oder er glaubt sie zu sehen und macht sich Mut, dass es doch nur eine Geschichte ist und es keine Karin gibt. Auf dem Heimweg bemerkt er dann die Anzeichen das Karin ihm folgt und die Geschichte endet wenn er die Tür aufmacht und Karin in seinem Haus sieht. Oder aber er weiß bereits das Karin darin auf ihn wartet und welches Schicksal ihn erwartet, wenn er das Haus betritt. Machst du das auf diese Weise wird der Leser mit seiner Fantasie zurückgelassen und die kann dann arbeiten.
    Die Geschichte von Karin.
    Das Karins Tochter wurde von einem unbekannten Täter umgebracht. Da der Täter nie gefunden wurde wurde Karin wahnsinnig und ihr Geist wandert durch den Wald um Wanderer zu überfallen. Richtig?
    Warum gerade in diesem Wald? Und was haben Rotkäppchen und der Wolf damit zu tun? Ist Karin der Wolf? Die Angst davor Karin zu begegnen? Wenn Rotkäpchen und der Wolf einfach nur aufgeführt wurde um einen tiefsinnigen Schluss zu schaffen würde ich es rausstreichen, weil es wieder nur verwirrend und die Geschichte künstlich aufbläst. Wenn das Märchen tatsächlich eine Bedeutung hat dann müssen schon vorher in der Geschichte Bezugspunkte dazu geknüpft werden. An dieser Stelle musst du vor allem ehrlich zu dir selbst sein und dir die Frage jedes Mal, wenn du einen Stoff oder Motiv benutzt stellen. Eine schöne Frauenleiche im Wasser würde von kundigen Lesern als eine Ophelia gelesen werden, was sie einen Harken zu unglücklicher Liebe, Selbstmord, Shaekspear und dem ganzen Rattenschwanz an möglichen Deutungen die da dran hängen schlagen lässt.
    Ich habe mal gelesen, dass Rotkäpchen eben nicht so gelesen wird, wie man es vermutet, nämlich das der böse Wolf für eine Angst steht die das arme kleine Mädchen jagt, sondern das der Wolf für die Sexualität steht die in einer heranwachsenden Frau heranreift. Diese Deutung könnte man ganz wunderbar in die Geschichte um Karin und ihre Tochter einbringen und damit den Eindruck verhindern, dass Rotkäpchen und der Wolf lediglich einen dekorativen Zweck erfüllen.

    Ich hoffe das hat dir etwas geholfen.

    Grüße
    Vy'gar

  3. #3
    Mitglied
    Registriert seit
    11.2005
    Beiträge
    399
    Mentioned
    0 Post(s)
    Tagged
    0 Thread(s)
    Danke für dein umfassendes Feedback.

    Die Geschichte ist nicht als Gruselgeschichte geplant gewesen und ist auch nicht als solche ausgeführt. Sie sollte einen Wanderer zeigen, zu dem sich eine Furcht gesellt, hier von Karin imaginiert, willkürlich, hätte auch ein Wolf sein können. Es sind diese grundlosen Ängste, die im dunklen Wald aufkommen. Wenn dem Leser am Anfang gleich verraten würde, ob Karin nun ein Gespenst ist oder nicht, wäre die Neugierde des Lesers bzw. die Spannung raus.

    Und am Ende, wenn dem Protagonisten eine Auge ausgestochen und die Beine zerkloppt werden und er hier ganz cool seine Aufzeichnungen davon macht, und mit dem klärenden Schluss, weiß der Leser, es ist nur eingebildet.

    LG Epiklord
    Geändert von Epiklord (15.02.2014 um 08:14 Uhr)

  4. #4
    Mitglied
    Registriert seit
    05.2008
    Beiträge
    92
    Mentioned
    0 Post(s)
    Tagged
    0 Thread(s)
    Ich muss gestehen, das kam für mich so gar nicht raus und ich wage es mich einfach mal ganz weit aus dem Fenster rauszulehnen und zu behaupten, dass das auch auf andere Leser zutrifft.
    Es stellen sich wieder zu viele Fragen. Warum kommt der Erzähler gerade Karin in den Sinn und nicht "Die Weiße Frau" oder irgend ein anderes beliebiges Gespenst? Die Erklärung, das Wanderer von ihr berichten kommt erst danach und man fragt sich: Wer zur Hölle ist die und warum soll ich die kennen? Natürlich könnte es auch ein Wolf sein aber, der Leser sollte verstehen warum der Erzähler gerade vor dieser Person Angst hat und wieso sie seine Ängste verkörpert.

    "Nun beende ich meine Aufzeichnung, lege den Stift beiseite und mich zum Sterben, wie alle Wanderer, die Karin früher oder später begegnen und von ihr hingemetzelt würden oder doch nur Opfer einer grundlosen Angst sind, wie das Rotkäppchen, das in Wirklichkeit nicht vom Wolf (die mögen keine Menschen) verschlungen worden war, sondern von ihrer Furcht vor jenem."
    Das hier ist kein kärendes Ende was den Leser zu dem von dir gewünschten Ende leitet, sondern es besagt: "Ich habe den Angriff von Karin nicht überlebt und werde jetzt sterben, so wie alle Anderen gestorben sind."
    Dein Ende würde man erreichen indem die Frau dem Erzähler auf seinem Spaziergang folgt udn er sich wirklich Angst macht indem er sich in seinen Gedanken immer weiter in eine Angstspirale reindreht. Am Ende, wenn er dann nach Hause kommt und die Tür schließt schließt er die Angst aus. Für Angst bricht die Begegung mit Karin und der Angst zu schnell ab.

    Wenn du mir nicht glaubst schlage ich vor, dass du die Geschichte einem Bekannten oder guten Freund zum lesen gibst und ihn danach fragst was das Thema der GEschichte ist. Vielleicht liege ich ja auch komplett falsch und die Geschichte funktioniert so.

    Liebe Grüße
    Vy'gar

  5. #5
    Mitglied
    Registriert seit
    11.2005
    Beiträge
    399
    Mentioned
    0 Post(s)
    Tagged
    0 Thread(s)
    Hallo Vy’gar,

    Schau dir deinen Satz mal an, der meinen inhaltlich komprimiert wiedergeben soll:

    "Ich habe den Angriff von Karin nicht überlebt und werde jetzt sterben, so wie alle Anderen gestorben sind."

    Inhaltlich legt deiner einen unlogischen Verlauf dar, wie ich ihn nicht beschrieben habe. Und ich habe nicht geschrieben, das alle anderen gestorben sind, sondern lediglich die Möglichkeit in Betracht gezogen. Ferner wird man eine gewisse Ironie in meinem Satz wahrnehmen. Und wenn ich sage „klärend“, so bedeutet es hier nicht eindeutig, sondern ich gebe dem Leser eine Info, die für ihn offen ist und klärend sein kann. Wir haben es hier ja mit Belletristik zu tun, und die sollte idealerweise immer etwas Denkarbeit dem Leser überlassen. Der möchte keine eindeutigen Erklärungen, wie bei Sachtexten gefordert. (Außerdem wird „anderen“ klein geschrieben.)
    Die irrationale Angst bedarf keiner Spirale, sie ist bereits unterschwellig im Prot. vorhanden, wird im dunklen Wald aktiviert. Wenn sie nun vorm Wolf oder einer bereits verstorbenen Karin besteht, sucht sie sich zu rechtfertigen. Aber weder Karin noch der Wolf sind eine tatsächliche Bedrohung.
    (Böse ist die Furcht des
    Jägers, die ihn dazu treibt, den Wolf zu töten.)


    LG Epiklord

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •  

Das Splash-Netzwerk: Splashp@ges - Splashbooks - Splashcomics - Splashgames
Unsere Kooperationspartner: Sammlerecke - Chinabooks - Salleck Publications - Splitter - Cross Cult - Paninicomics - Die Neunte
Comicsalon Erlangen
Lustige Taschenbücher