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Thema: Roundtable zum Unzuverlässigen Erzählen im Comic

  1. #1
    Mitglied Avatar von Mick Baxter
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    Roundtable zum Unzuverlässigen Erzählen im Comic

    Auf der Website der Gesellschaft für Comicforschung äußern sich fünf Autoren zur Problematik des unzuverläsigen Erzählern, das im Comic nicht so einfach aus der Narratologie der Belletristik übernommen werden kann.

    Los geht es mit meinem Beitrag, der auch für normale Comicleser, insbesondere aber Comicautoren verständlich sein sollte.

    Roundtable
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  2. #2
    Mitglied Avatar von jo b.
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    Interessante Frage. Ich bin schon auf die anderen Beiträge gespannt.
    Nach der Lektüre Deiner Stellungnahme muss ich sagen, sehe ich es ganz ähnlich wie der Kommentator auf Eurer Seite. Solange man keinen Grund zu der Annahme hat, dass beispielsweise zwischen den Panels etwas relevantes für die Erzählung fehlen könnte, sollte man das auch erst mal nicht tun und das, was von der Erzählung ankommt, als zuverlässig annehmen. Wenn sich ein stimmiges Gesamtbild ergibt, warum es in Frage stellen?
    Dass man im Comic als Erzähler auf sehr vielen Ebenen Verwirrung stiften kann, (Bild, Text, Seiten Layout, Pacing, Zeichenstil ...) heißt das ja nicht, dass das auch stets der Fall ist. Daher würde auch ich die Erzählung im Comic an sich für nicht mehr oder weniger zuverlässig ansehen, als in jedem anderen Medium auch.
    Vielleicht macht es an der einen oder anderen Stelle Sinn widersprüchlich zu erzählen und den Comic durch seine einzigartigen und vielen Möglichkeiten dies zu tun zu etwas besonderem, so ist es meiner Meinung nach nur durch gezielten und konzeptionell gekonnten Einsatz auch reizvoll und somit die Ausnahme.

  3. #3
    Mitglied Avatar von Mick Baxter
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    Zitat Zitat von jo b. Beitrag anzeigen
    Daher würde auch ich die Erzählung im Comic an sich für nicht mehr oder weniger zuverlässig ansehen, als in jedem anderen Medium auch.
    Das ist aber eine Annahme von dir.
    Während ein Text eine klare Aussage macht, gibt der Comic nur Hinweise, die der Leser erst interpretieren muß. Meist geschieht dies in einem verläßlichen Kanon, es bleibt aber eine Interpretation.

    Text:
    Hein geht ins Büro.

    Comic:



    Die Interpretation sagt uns: Ja, Hein geht ins Büro. Ob er aber geht, können wir nur vermuten, denn sehen können wir es nicht.


    Geändert von Mick Baxter (25.03.2013 um 23:03 Uhr)
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  4. #4
    Mitglied Avatar von jo b.
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    Zitat Zitat von Mick Baxter Beitrag anzeigen
    Das ist aber eine Annahme von dir.
    Das sowieso.
    Auch verstehe ich die Problematik.
    Ich frage mich nur nach dem Sinn des in Frage stellens. Der Erzähler bedient sich ja dem Medium für einem bestimmten Zweck. Der Zweck kann es ja nicht sein, eine beabsichtigte Interpretation in Frage zu stellen, sondern sie ist das gemeinsame Vokabular (Erzähler und Leser).
    Ich könnte auch in meinem Buch das Wort "gehen" benutzen und später aufklären, dass dieses Wort in meinem Vokabular was völlig anderes bedeutet. Das macht aber im Hinblick auf die Erzählung keinen Sinn. Man muss erst mal davon ausgehen, dass wir das gleiche Vokabular benutzen.

    Genau genommen ist "Hein geht ins Büro" auch nicht mit einem einzelnen Panel zu erzählen, weil es offen lässt, ob er ankommt. Es sollte daher eher "Hein geht Richtung Büro" heißen.
    Geändert von jo b. (26.03.2013 um 08:19 Uhr)

  5. #5
    Mitglied Avatar von Coffeehouse
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    Irgendwie wirkt diese bzw. eine wissenschaftlich-intellektuelle Auseinandersetzung mit dem im Ursprung eher kindlichen oder seichten Medium Comic auf mich etwas skurill, und auch ein bisschen (klischeehaft) typisch deutsch. Will sagen: Ist das wichtig?

    Wird sowas im franko-belgischen Raum auch so oder ähnlich diskutiert? (Das ist keine rhetorische Frage.)

  6. #6
    Mitglied Avatar von Markus Herbert
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    Zitat Zitat von Coffeehouse Beitrag anzeigen
    Irgendwie wirkt diese bzw. eine wissenschaftlich-intellektuelle Auseinandersetzung mit dem im Ursprung eher kindlichen oder seichten Medium Comic auf mich etwas skurill, und auch ein bisschen (klischeehaft) typisch deutsch. Will sagen: Ist das wichtig?

    Wird sowas im franko-belgischen Raum auch so oder ähnlich diskutiert? (Das ist keine rhetorische Frage.)
    Und irgendwie hatte ich die vage Hoffnung, dass die Comicforumisten hier das kindlich/seichte in Comics nicht kolportieren. Denn diese im höchsten Maße simplifizierte Ansicht über Comics ist wirklich typisch deutsch.
    Geändert von Markus Herbert (26.03.2013 um 08:06 Uhr)
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  7. #7
    Moderator Künstlerbereich Avatar von Fumetto
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    Ich finde, die Comicforschung hat häufig das Problem, das sie in der Literatur- und Erzählforschung längst diskutierte Probleme aufgreift, allerdings in Unkenntnis des jeweiligen Wissensstandes. Das Problem des (un-)zuverlässigen Erzählers ist ein alter Hut der Fiktionalitätsdebatte. Fest steht, dass literarische Texte immer strategisch operieren, d. h. sie sind im Bewusstsein einer mehr oder weniger konkreten Darstellungsabsicht geschrieben. Das führt automatisch zu Auslassungen, Raffungen, Wertungen und Manipulationen, also zur absichtsvollen Anordnung des verfügbaren Materials. Insofern ist kein einziger Erzähler zuverlässig, auch der nicht, der es fortlaufend beteuern (etwa in den weit verbreiteten Herausgeberfiktionen der dt. Romantiker). Die Zuverlässigkeitserwartung setzt ja eigentlich auch voraus, dass das Erzählen, wo es redlich betrieben wird, ein direktes und ungefiltertes Abbild der Wirklichkeit ist. Da Erzählen aber im Wesentlichen Erinnerungsarbeit ist, und jeder weiß, wie unzuverlässig und manipulativ die Erinnerung ist, sollte es niemanden überraschen, dass diasselbe auch für das Erzählen gilt. Das Problem des unzuverlässigen Erzählers ist also tatsächlich ein Scheinproblem, denn Erzählen ist immer weder zuverlässig noch unzuverlässig (das sind ja übrigens auch recht unglückliche, moralisierende Begriffe), sondern fiktional und mehrdeutig.
    So weit, so gut. Bei Comics kommt man nun allerdings m. E. mit der Narratologie nicht sehr weit. Denn Comics haben eigentlich mit dem Drama mehr zu tun als mit der Prosa, insofern sie ja häufig auf Dialoge zurückgreifen. Bei Dialogen gibt es aber gar keinen Erzähler, weder einen zuverlässigen noch einen unzuverlässigen. Ähnliches gilt für Comics. Die changieren ständig zwischen der Mittelbarkeit der erzählenden Prosa und der Unmittelbarkeit des dramatischen Dialogs (und des Bildes!). Für diesen merkwürdigen Vorgang ist eigentlich noch gar keine angemessene Theorie gefunden worden. Die Narratologie ist es jedenfalls nicht, da Comics eben, wie gesagt, die meiste Zeit über gar nicht erzählen (es sei denn, man verwendet den Begriff des Erzählens in metaphorischer Weise für das Erzählen in Bildern; aber dann hat man die Suche nach präzisen Begriffen schon aufgegeben).
    Geändert von Fumetto (26.03.2013 um 08:19 Uhr)

  8. #8
    Moderator Autorenforum / Pony X Press / Katzenjammer Avatar von Spong
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    Fum hat recht, dem unzuerlässigen Erzähler bin ich schon 1988 in einem Dostojewski-Seminar begegnet, und da hatte er schon viele Jahrzehnte auf dem Buckel. Was ich bei Comics speziell und interessant finde, ist die Möglichkeit, im Text den Erzähler erzählen zu lassen, wie er heldenhaft oder mutig war, und in den Bildern zu erzählen, was WIRKLICH passiert ist, wie bei Alex Robinson, wo jemand erzählt, wie er kündigt, während man sieht dass er gefeuert wurde. Wundere mich, dass das nicht öfter eingesetzt wird.

    @Markus laut Duden ist "kolportieren" definiert als "eine ungesicherte, unzutreffende Information verbreiten". Wie meinze denn?

    Ich finde es eher männlich als deutsch, sich einem sehr speziellen Thema auf ernsthafte, wissenschaftliche Weise zu nähern. Andererseits gibt es Leute, die stundenlang über die Zwerge in HDR oder Nagellackfarben diskutieren können. Soll doch jeder wie er findet, gelle?

  9. #9
    Mitglied Avatar von Markus Herbert
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    Zitat Zitat von Spong Beitrag anzeigen
    @Markus laut Duden ist "kolportieren" definiert als "eine ungesicherte, unzutreffende Information verbreiten". Wie meinze denn?
    Eigentlich genau so. Denn kindlich/seicht in Verbindung mit Comics ist (für mich) "unzutreffende Information".
    Die meisten Mitbürger ordnen Comics leider gerne der Kinderabteilung zu, aber ich denke, hier im Comicforum ist es völlig legitim das anders zu sehen und dann halt auch mal etwas ernsthafter an das Thema heran zu gehen.
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  10. #10
    Mitglied Avatar von jo b.
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    Zitat Zitat von Fumetto Beitrag anzeigen
    (es sei denn, man verwendet den Begriff des Erzählens in metaphorischer Weise für das Erzählen in Bildern; aber dann hat man die Suche nach präzisen Begriffen schon aufgegeben).
    In den angeführten Beispielen geht es ja genau darum und davon bin ich auch ausgegangen. Während der Text ganz klar sagen kann: "Hein geht ins Büro.", ist es beim "Erzählen" im Comic ein Zusammenspiel aus verschiedenen Ebenen.
    Ein Comic, der in Text und Bild das gleiche beschreibt, ist entweder eine Parodie oder einfach schlecht. Gut zu sehen in Micks Beitrag zum 'Round Table'. Daher sollte man beim Comic auch vom Erzählen mit Mitteln des Comics sprechen und nicht vom klassischen Erzähler der Prosa. Die Begrifflichkeit ist in dem Zusammenhang wie Du geschrieben hast, natürlich mißverständlich und sollte erst geklärt sein.
    Wirklich Sinn macht der klassische Erzähler eben nur, wenn man die verschiedenen Ebenen sich ergänzend benutzt, wie in Spongs Beispiel.
    Ähnlich ist das im Film. Da taucht hin und wieder ein Erzähler auf (meist als Off-Sprecher), dient aber dazu das vorhandene Bild zu ergänzen. Ein Erzähler wie in der Prosa, ist in Comic und Film nicht nötig und würde eher dem Anschauen eines Films mit Kommentar für Blinde entsprechen.

  11. #11
    Mitglied Avatar von Surikat
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    Ich hätte es noch gut gefunden, wenn die Definition des "unzuverlässigen Erzählers" in eigenen Worten im Beitrag aufgeführt wird.

    Aber das nur nebenbei. Wenn ich mich nun schlaumache, was ein unzuverlässiger Erzähler genau sein soll, dann finde ich heraus, dass ich es so umschreiben würde: "Eine vom Autor beabsichtigte Irreführung des Lesers über den grossen Handlungsverlauf".

    Wenn ich das mit Comics betrachte, dann meine ich mit dem grossen Handlungsverlauf beispielsweise den roten Faden, der durch einen einzelnen Tim-Und-Struppi-Band vom allerersten Panel bis zum letzten Durchläuft. Bei Filmen ist es von der ersten bis zur letzten Szene.

    Dieser grosse Handlungsverlauf teilt sich auf in kleinere Handlungsstränge, welche sich wiederum aufteilen in noch kleinere Stränge, Szenen, Comicpanels, ...

    Grundsätzlich widerspiegeln natürlich die kleinen Handlungsstränge stets die grösseren Handdlungsstränge, und somit auch die beabsichtigte Verwirrung, falls es denn überhaupt eine Verwirrung in dem soeben gezeigten Handlungsstrang gibt.

    Wenn innerhalb eines Handlungsstrangs oder zwischen zweien nichts passiert, was zu einer Irreführung führen kann, dann ist es für mich nicht unzuverlässig.

    Ob nun somit der Zwischenraum zwischen einzelnen Panels eines Comics automatisch als "unzuverlässig" gelten soll, weil wir nicht sehen, was dazwischen passiert, finde ich eine zu starke Verbiegung meiner (eigenen) Definition des unzuverlässigen Erzählers. Das Unbekannte zwischen den Panels ist für mich einfach nur das, was unser (visuelles) Gehirn sowieso auch macht: Das Herausfiltern von all dem, was nicht wichtig ist. Wenn es dem Autor gelingt, dieses Filtern so zu steuern, dass der Leser dadurch absichtlich in die Irre geführt wird, dann handelt es sich um den unzuverlässigen Erzäher. Wenn es nichts gibt, was vom Leser irrtümlich angenommen werden wird, dann ist es nicht unzuverlässig.

    Des weiteren: Comics allgemein als Kinder-Literatur zu bezeichnen finde ich auch nicht gut, aber vielleicht würde es nicht schaden, mal nicht nur die High-End-Klasse (graphic novels, Erwachsenen-Comics, wie-auch-immer-man-es-nennen-will) anzuschauen, sondern auch mal ein Fix-und-Foxi. Auch da wird der unzuverlässige Erzähler eingesetzt, beispielsweise wenn während der Geschichte niemand für Lupo Zeit hat, am Schluss jedoch rauskommt, dass alle seinen Geburtstag vorbereitet haben. Das Gegenteil (der ZUverlässige Erzähler) wird meiner Meinung nach sogar noch viel stärker eingesetzt, was oftmals sogar die Komik eines Panels oder dem Zwischenraum ausmacht: Donald Duck öffnet seine Brieftasche, raus fliegt eine Motte, er sagt: "Ich bin wieder einmal pleite". Entgegen dem Text im "ersten Beitrag" würde ich das jedoch nicht als Nichtbeherrschen des Handwerks bezeichnen, im Gegenteil.

    PS: Ich liebe solche Filme/Comics/Bücher, wo ich als Leser in die Irre geführt werde. Nun hat meine Liebe sogar einen Namen: "Der unzuverlässige Erzähler"... So öde.

  12. #12
    Mitglied Avatar von Vainamoinen
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    Zitat Zitat von Coffeehouse Beitrag anzeigen
    Irgendwie wirkt diese bzw. eine wissenschaftlich-intellektuelle Auseinandersetzung mit dem im Ursprung eher kindlichen oder seichten Medium Comic auf mich etwas skurill, und auch ein bisschen (klischeehaft) typisch deutsch. Will sagen: Ist das wichtig?
    Autsch, Coffee, würdige dich doch nicht derartig herab. Sieh es als eine Diskussion bildlichen und textlichen Erzählens, dann brauchst du das Wort Comic nicht verwenden.

    Zitat Zitat von Markus Herbert Beitrag anzeigen
    Denn diese im höchsten Maße simplifizierte Ansicht über Comics ist wirklich typisch deutsch.
    Nein. "Typisch deutsch" ist typisch deutsch, und das war's auch schon. Das Comic-Stigma als kindgerechter Schund der Printwirtschaft existiert noch weit, weit, weiiiit über deutsche Grenzen hinaus.


    Zitat Zitat von Fumetto Beitrag anzeigen
    Ich finde, die Comicforschung hat häufig das Problem, das sie in der Literatur- und Erzählforschung längst diskutierte Probleme aufgreift, allerdings in Unkenntnis des jeweiligen Wissensstandes. [...] Insofern ist kein einziger Erzähler zuverlässig, auch der nicht, der es fortlaufend beteuern (etwa in den weit verbreiteten Herausgeberfiktionen der dt. Romantiker). Die Zuverlässigkeitserwartung setzt ja eigentlich auch voraus, dass das Erzählen, wo es redlich betrieben wird, ein direktes und ungefiltertes Abbild der Wirklichkeit ist. Da Erzählen aber im Wesentlichen Erinnerungsarbeit ist, und jeder weiß, wie unzuverlässig und manipulativ die Erinnerung ist, sollte es niemanden überraschen, dass diasselbe auch für das Erzählen gilt. Das Problem des unzuverlässigen Erzählers ist also tatsächlich ein Scheinproblem, denn Erzählen ist immer weder zuverlässig noch unzuverlässig (das sind ja übrigens auch recht unglückliche, moralisierende Begriffe), sondern fiktional und mehrdeutig. [...]Die Narratologie ist es jedenfalls nicht, da Comics eben, wie gesagt, die meiste Zeit über gar nicht erzählen (es sei denn, man verwendet den Begriff des Erzählens in metaphorischer Weise für das Erzählen in Bildern; aber dann hat man die Suche nach präzisen Begriffen schon aufgegeben).
    Es ist sicher richtig, dass (selbsternannte) Comicforscher in der Aufregung um ihr 'neues' Forschungsobjekt gerne Erkenntnisse links liegen lassen, die Über Jahrhunderte in Literatur oder Kunst detailliert behandelt wurden. Ich würde jedoch tendenziell annehmen, dass wir dort noch zu neuen Erkenntnissen gelangen können, wo Bild und Text beigeordnet werden. Dann treten wir zwar immer noch in die Fußstapfen der Kinematographie, sind uns aber dennoch eines "neueren" Forschungsbereiches sicher.

    Den Begriff des "Erzählens" darf die Literatur jedenfalls nicht allein für sich verbuchen, hat sie ihn doch bereits aus dem Paradigma der mündlichen Überlieferung in ein schriftsprachlich definiertes Korsett gezwängt. Selbstverständlich erzählen auch Bilder, und selbstverständlich erzählen Comics, ohne dass dadurch ein literaturwissenschaftlicher Terminus technicus böse zweckentfremdet würde. Eine präzisere Begriffsdefinition benötigen wir hier nicht (oder HOFFENTLICH nicht, da wir sonst zu gar nichts kommen). Comicautor wie Illustrator erzählen. Die für diese Diskussion wesentliche Frage ist vielleicht, durch welche Techniken Autor/Illustrator und Erzähler zu verschiedenen Personen werden bzw. durch welche Erzähltechniken wir zur Ansicht gelangen, eine absichtsvolle oder unbeholfene Fehldarstellung durch eine fiktive Person vor uns zu haben.

    Ich bin auch nicht bereit, einen unzuverlässigen Erzähler im Comic als "Scheinproblem" anzusehen, indem ich jede textliche und bildliche Repräsentation einer 'realen' Situation als grundsätzlich unzuverlässig ansehe. Diese "Unzuverlässigkeit" ist eine Erzähltechnik, die ein Autor absichtsvoll einsetzen kann, wie Surikat es beschrieben hat, und es lohnt sich, diese Idee im Rahmen der Gegenstandserweiterung Bild + Text zu untersuchen. Wenn mit ein Text etwas von Düsseldorf erzählt, das zugehörige Bild mir aber den Eiffelturm in den Hintergrund klatscht, gehe ich mal grundsätzlich nicht davon aus, dass sich der Comicautor selbst nicht mehr so ganz genau erinnert. Das ist ein Bruch der Interdependenz von Bild und Text, der Signalwirkung hat - und der in Film und Comic bislang einzigartig sein dürfte.
    Geändert von Vainamoinen (26.03.2013 um 14:40 Uhr)

  13. #13
    Mitglied Avatar von Markus Herbert
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    Zitat Zitat von Vainamoinen Beitrag anzeigen
    Nein. "Typisch deutsch" ist typisch deutsch, und das war's auch schon. Das Comic-Stigma als kindgerechter Schund der Printwirtschaft existiert noch weit, weit, weiiiit über deutsche Grenzen hinaus.
    Akzeptiert, typisch war hier unpassend. Es störte mich nur, dass man sich als Comic Liebhaber unnötig in die Kinderecke stellt (und alle anderen gleich mit dazu).

    Eine Aussage dazu, wer Comics liest, lässt sich leider nur bruchstückhaft finden. Interessant fand ich das hier http://www.downthetubes.net/writing_...d_figures.html obwohl ich die versprochenen facts & figures lieber in einer handlichen Tabelle hätte.

    Ein Zitat: The age range of comics readers buying comics in comic shops varies but I would say it's teenager upwards with the real "hardcore" US comics fans in their late 20s and up -- the generation who has easy access to such material (late thirties and 40s) are probably the most regular and committed comics buyers.

    Sorry für das OT. Bitte weitermachen!
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  14. #14
    Mitglied Avatar von Mick Baxter
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    Definiert man "Erzählen" im Comic nur auf die Captures, ist das Forschungsgebiet sehr, sehr eng. Martin Schüwer greift daher in seinem Werk "Wie Comics erzählen" auf Elemente der Film-Theorie zurück.

    Zitat Zitat von Fumetto Beitrag anzeigen
    Das führt automatisch zu Auslassungen, Raffungen, Wertungen und Manipulationen, also zur absichtsvollen Anordnung des verfügbaren Materials. Insofern ist kein einziger Erzähler zuverlässig, auch der nicht, der es fortlaufend beteuern (etwa in den weit verbreiteten Herausgeberfiktionen der dt. Romantiker).
    Der allwissende Erzähler einer fiktionalen Geschichte ist insofern durchaus zuverlässig, daß alles, was er beschreibt, im Rahmen der Geschichte auch wirklich passiert.
    Eigentlich ist die literarische Form des unzuverlässigen Erzählers eine Vereinbarung zwischen Autor und Leser. Gilt der Erzähler als zuverlässig, dann gibt es eben Zauberer, Trolle, Drachen, Elben und Androiden oder Pinguine am Nordpol (wie in “Jo, Jette und Jocko” und “Buck Danny”). Ist der Erzähler dagegen ein Kind oder erkennbar parteiisch, ist das nicht mehr so sicher. Ist der Erzähler unzuverlässig, ohne daß der Leser es weiß (wie bei Agatha Christies "Alibi"), ist die Vereinbarung aufgekündigt, was bei dem einen oder anderen Leser für Verärgerung sorgt.

    Zitat Zitat von Surikat Beitrag anzeigen
    Wenn ich mich nun schlaumache, was ein unzuverlässiger Erzähler genau sein soll, dann finde ich heraus, dass ich es so umschreiben würde: "Eine vom Autor beabsichtigte Irreführung des Lesers über den grossen Handlungsverlauf".
    Ist der Erzähler der Geschichte ein Kind, dient das nicht der Irreführung des Lesers, sondern es wird eine komische Distanz zwischen dem Geschehen und dessen Interpretation durch das Kind geschaffen.

    Zitat Zitat von Surikat Beitrag anzeigen
    Ob nun somit der Zwischenraum zwischen einzelnen Panels eines Comics automatisch als "unzuverlässig" gelten soll, weil wir nicht sehen, was dazwischen passiert, finde ich eine zu starke Verbiegung meiner (eigenen) Definition des unzuverlässigen Erzählers. Das Unbekannte zwischen den Panels ist für mich einfach nur das, was unser (visuelles) Gehirn sowieso auch macht: Das Herausfiltern von all dem, was nicht wichtig ist.
    Das ist nur zum Teil richtig. Was zwischen den Panels passiert ist zwar gelegentlich unwichtig, in erster Linie muß aber der Leser aus den Vorgaben der umgebenden Bilder schlußfolgern, was da passiert ist. Je weiter die Bildfolge ist, desto anspruchsvoller (aber auch unzuverlässiger) ist dieser Vorgang.
    Und diese Unzuverlässigkeit kann Interferenzen mit der vom Autor beabsichtigten Unzuverläsigkeit des Erzählers erzeugen, die es notwendig machen, die Fragestellung in Belletristik und Comic unterschiedlich zu behandeln.
    Geändert von Mick Baxter (26.03.2013 um 19:43 Uhr)
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  15. #15
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    Wilhelm Busch: "Die fromme Helene"

    Der Franz, ein Schüler hochgelehrt,
    Macht sich gar bald beliebt und wert.

    (...)

    Wenn in der Küche oder Kammer
    Ein Nagel fehlt – Franz holt den Hammer!

    Wenn man den Kellerraum betritt,
    Wo's öd und dunkel – Franz geht mit!

    Wenn man nach dem Gemüse sah
    In Feld und Garten – Franz ist da!

    Oft ist z.B. an den Stangen
    Die Bohne schwierig zu erlangen.



    Franz aber faßt die Leiter an,
    Daß Lenchen ja nicht fallen kann.

    Und ist sie dann da oben fertig –
    Franz ist zur Hilfe gegenwärtig.


  16. #16
    Mitglied Avatar von Coffeehouse
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    Zitat Zitat von Markus Herbert Beitrag anzeigen
    the generation who has easy access to such material (late thirties and 40s) are probably the most regular and committed comics buyers.
    Völlig richtig. Das sind überwiegend Leute die Comics in ihrer Kindheit liebgewonnen haben und die aus Nostalgie dabei geblieben sind oder es wiederentdeckt haben. Den Kindern von heute sind Comics nämlich oft zu langweilig und zu teuer.

    Ich will Comics gar nicht schlechtreden. Ich möchte das Thema einfach nur möglichst unbefangen, objektiv und ehrlich betrachten und mir nicht vormachen, dass ich Comics aus einem besonderen intellektuellen Anspruch lese.

  17. #17
    Mitglied Avatar von Coffeehouse
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    Zitat Zitat von Mick Baxter Beitrag anzeigen
    Das ist nur zum Teil richtig. Was zwischen den Panels passiert ist zwar gelegentlich unwichtig, in erster Linie muß aber der Leser aus den Vorgaben der umgebenden Bilder schlußfolgern, was da passiert ist. Je weiter die Bildfolge ist, desto anspruchsvoller (aber auch unzuverlässiger) ist dieser Vorgang.
    Und diese Unzuverlässigkeit kann Interferenzen mit der vom Autor beabsichtigten Unzuverläsigkeit des Erzählers erzeugen, die es notwendig machen, die Fragestellung in Belletristik und Comic unterschiedlich zu behandeln.
    Im Film ist das doch das äquivalent zum Schnitt, oder geht es nur um eine Abgrenzung zum Thema Buch (wo es z.B. auch ein Szenenwechsel sein kann. Oder sogar nur einfach die Lücke zwischen zwei Sätzen - da passiert ja auch was)? Wenn man das ganze zuende spinnt, wird das imho eine sehr philosophische Angelegenheit über Raum, Zeit und Kontinuum.

  18. #18
    Mitglied Avatar von Mick Baxter
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    Zitat Zitat von Coffeehouse Beitrag anzeigen
    Im Film ist das doch das äquivalent zum Schnitt
    Nein. Im Film ist sogar das Gegenteil der Fall: Wird in einer Bewegung geschnitten, werden 1–3 Frames rausgeschnitten. Der Film fordert den Zuschauer selten dazu heraus, zu überlegen, was zwischen den Frames oder Schnitten passiert ist. Dazu läßt er dem Betrachter auch gar nicht die Zeit.
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  19. #19
    Mitglied Avatar von jo b.
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    Roundtable zum Unzuverlässigen Erzählen im Comic

    Zitat Zitat von Mick Baxter Beitrag anzeigen
    Nein. Im Film ist sogar das Gegenteil der Fall: Wird in einer Bewegung geschnitten, werden 1–3 Frames rausgeschnitten. Der Film fordert den Zuschauer selten dazu heraus, zu überlegen, was zwischen den Frames oder Schnitten passiert ist. Dazu läßt er dem Betrachter auch gar nicht die Zeit.
    Das stimmt so nicht. Nehmen wir mal wieder Dein Beispiel "Hein geht ins Büro." In keinem Film würde gezeigt werden, wie er von Tür zu Tür läuft. Das wäre bei einem Fußmarsch von 20 Minuten auch recht langweilig. Stattdessen wird eine kurze (x beliebige) Geh-Sequenz von ein paar Sekunden montiert, die den gesamten Gehweg symbolisiert. Und selbst das würde nur gemacht werden, wenn es dem Regisseur wichtig ist, dass der Zuschauer weiß, dass Hein geht. Sonst würde er wohl eher von Wohnungstür direkt zu Büro schneiden. Diese Raffungen der Erzählung sind viel mehr eine Technik um unwichtiges weg zu lassen, und somit der Erzählung ein ansprechendes Tempo zu verleihen, als eine Eigenart des Comics.
    Geändert von jo b. (27.03.2013 um 08:18 Uhr)

  20. #20
    Mitglied Avatar von Coffeehouse
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    Ja genau, und dieses "was dazwischen passiert, wissen wir ja gar nicht" ist in gewissem Maße unwichtig, wenn es nicht gewollt als Irreführung genutzt wird. Wenn es um diese gewollte Irreführung geht, dann lässt sich mit Sicherheit in fast jeder Erzählform ein Beispiel dafür finden. Darin liegt für mich keine USP des Mediums Comic.

    Es geht im Normalfall darum, dass der Comicschaffenden den gemeinsamen Konsens findet, durch den der Comicleser die Handlung bildlich verstehen kann.

    Ich glaub, ich versteh den Sinn der Diskussion gar nicht so richtig. Mir sagte aber auch der Ausdruck "unzuverlässiger Erzähler" nichts.

  21. #21
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    Das ist ein Modekniff aus dem Roman des 19. Jahrhunderts. Ein großer Hit in dieser Technik ist "die allertraurigste Geschichte" von Ford Madox Ford. Der kritische Leser bekommt im Laufe der Geschichte Einblicke in die Persönlichkeit des fiktiven Erzählers und die tragischen Ereignisse in seinem Umfeld (angelsächsische High Society auf Kur in Bad Nauheim). Er ist am Ende in der Lage, ganz andere Schlüsse daraus zu ziehen als der Erzähler. Er bekommt das unbestimmte Gefühl, daß er den zunächst symphatischen Erzähler vielleicht doch nicht auf die nächste Party einladen will. Große Erzählkunst, aber so subtil denke ich wohl nur in reiner Textform möglich. Fumetto benennt das Problem der unmittelbareren Darstellung im Comic eigentlich verdammt gut, finde ich. Den Film "das geheime Fenster" fand ich zum Beispiel ziemlich plump, obwohl er etwas ähnliches versucht.

  22. #22
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    Der bekannteste unzuverlässige Erzähler (wenn auch in einer milden Form) ist vermutlich Dr. Watson, der zwar genau schildert was er beobachtet, aber gar nicht durchschaut was passiert, bevor Sherlock Holmes ihn aufklärt.
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