Neues Meer, Tag 15 der Überfahrt

Erst vor wenigen Stunden war die „Haglotta“ erfolgreich aus dem Roten Nebel herausgelangt. Die letzten drei Tage waren für Schiff, Besatzung und Passagiere wahrlich keine leichte Zeit. Die Wogen waren nahezu still, der Wind hauchte nur sanft und so schien das Schiff zu stehen. Nur träge bewegte es sich voran, gänzlich auf den Strömungen des Wassers angewiesen. Nicht nur der Umstand, dass der Rote Nebel das Licht der Sonne so stark zu schlucken wusste, dass man sich wie an einem dämmrigen Morgen fühlte, konnte einem Angst einflößen. Mehr noch waren es die blutenden Segel. Mit jeder Stunde änderte sich das matte Weiß der Segel in blutiges Rot. Zunächst sammelten sich die roten Tropfen und Tränen am Rand und an Nähten des Stoffes um dann einer Flechte gleich auf die noch weißen Regionen aus zu wuchern. Zuletzt war dieser rote feuchte Film auch über den Rest des Schiffes zu finden.

Doch nun endlich erreichten die wärmenden Strahlen der Sonne wieder die „Haglotta“. Wie ein rascher Wechsel vom Winter zum Sommer hin wurde die drückende und kalte Stimmung vertrieben. Die gut 60 Passagiere trauten sich nun nach und nach wieder an Deck und große Erleichterung stand in deren Gesichtern. Sie lebten noch, und dieser verfluchte Rote Nebel war fort. Einzig das Rote Band am Horizont hinter dem Schiff und die immer noch blutroten Segel und der feuchte Film auf den Holzbrettern vermochten an diese Tage erinnern.


Der Kapitän trat zu Tarek, der die letzten Stunden mit dem Matrosen Jullko am Ruder gestanden hatte. Als Kapitän hatte Valo Meihul die erfolgreiche Passage des Roten Nebels im Logbuch vermerkt und wollte nun mit Tarek die weitere Fahrt besprechen. Valo hielt viel auf Tarek und beide hatten gemeinsam schon viel erlebt. Doch diese Überfahrt stellte die beiden erfahren Seeleute auf eine Probe. Neben den meisten seiner gut zwanzig Mann wirkte der beeindruckende Mittvierziger kräftig und noch voller Kraft. Doch immer, wenn er neben Tarek stand, verschwand dieser Eindruck, denn Tarek überragte den Kapitän um gut einen Fuß und wirkte dank seines Körperbaus weit mehr Respekt einflössend.

„Das Wetter scheint hier gut zu sein. Laut den Berichten der Entdecker liegt Ni Gulland zwei Tage südwestlich der Roten Nebel.“, bemerkte der Kapitän und ließ seinen Blick über die Reling, das Deck und den Hauptmast zum Ausguck hinauf wandern. Beim Anblick der Segel verzog er leicht den Mund. „Das haben sie uns aber nicht erzählt…“, kommentierte er unzufrieden die Verfärbung des Stoffes. Prüfend sah er genauer zum Ausguck. „Ist Fredrick dort oben?“, wollte er wissen. Fredrick war sowas wie das Kind der Crew und insbesondere des Kapitäns, der selber keine eigene Familie besaß. Vor sieben Jahren fand Tarek den damals 8-jährigen Knaben zwischen einigen Fässern im Frachtraum. Niemand konnte erfahren, woher der Junge kam und was ihn an Bord des Schiffes verschlagen hatte. Tarek erhielt die Aufgabe, den Jungen die nötigen Kenntnisse der Seefahrt zu lehren. Und dies tat er gewissenhaft bis heute. Anfangs nutzte der Junge wenig und war für Tarek eher eine Last. Einzig in der Kombüse oder bei der Instandhaltung des Schiffes taugte das Kind etwas. Mit der Zeit jedoch wurde er ein talentierter Matrose, der meistens im Ausguck oder irgendwo in der Takelage zu finden war. Und so war Fredrick auch die letzten Tage fast durchgehend dort oben gesessen.


Lucani hatte die letzten Tage und Nächte fast ausschließlich an Deck verbracht. Sie konnte kaum schlafen und besonders die Zeit im Roten Nebel nagte an ihr. Immer wieder hatte sie versucht, zu ruhen und zu schlafen. Doch kaum waren ihre Sinne aus der gegenwärtigen Welt entflogen, suchten sie Bilder heim. Es war kein Traum, das wusste sie zu gut. Und doch war alles seltsam verzerrt, und sie war sich nicht sicher, wie sie diese Bilder zu verstehen hatte. Waren sie eine Warnung?

Zuletzt hatte sie vor zwölf Stunden einen Versuch der Ruhe unternommen. Und doch war es das Gleiche wie zuvor gewesen: Sie sah sich am Bug eines Schiffes stehen. Doch anders als in ihrer ursprünglichen Vision sah sie nichts, nur grauen Nebel. Sie sah sich um, doch ihr Blick reichte keinen Schritt weit und als sie sich wieder gen Meer wandte, riss der Nebel wie von magischer Hand auf. Sie sah drei Schiffe auf sich zu kommen. Erst fern und dann immer näher. Einem Zeitraffer gleich stießen die Schiffe immer näher auf Lucani zu und mit jedem Schub konnte sie mehr erkennen: Schwarze Segel, schwarzer Rumpf und eine schwarze Flagge. Und der letzte Schub zeigte schwarze Männer, mit Säbeln in den Händen… Spätestens dann riss Lucani sich heraus aus diesen Bildern und war wieder im hier und jetzt, an Bord der "Haglotta".

Und so erlebte sie nun mit, wie die Sonne sich endlich wieder zum Schiff und ihr selbst durchkämpfen konnte. Und doch, trotz der Wärme, die sie nun auf Ihrer Haut verspürte, nagten die Bilder in ihr.


Anders als Lucani schien Thanim weit weniger Probleme mit dem Schlaf zu haben. Zumindest anfänglich. Erst nachdem ihm klar geworden war, dass der Schamanin, seiner Schamanin, etwas zur Last fiel, versuchte er pflichtbewusst an ihrer Seite zu sein. Auch wenn er mittlerweile die ersten Spuren des Schlafentzuges in seinem Körper verspüren mochte, so wollte er sie nicht alleine an Deck lassen und erlebte wie sie das Auftauchen der Sonne.

Unweit von Thanim und Lucani konnte der Krieger den Kommandeur Sialfuur ausmachen. Der Kommandeur sollte in Ni Gulland irgendeine wichtige Aufgabe übernehmen. Doch, wie es für solch wichtige Leute üblich war, hatte der Kommandeur dies bereits auf der „Haglotta“ kundgetan und Ehrfurcht und Respekt eingefordert. Leider war der Kommandeur ein Anhänger des Neuen Gottes und dessen Anhänger gleich verachtete er die anderen Glaubensrichtungen. Besonders mit Lucani und Thanim schien er ein Problem zu haben:
Kaum an Bord hatte er mehrfach darauf bestanden, dass die beiden ihre tierischen Begleiter an Land zurück zulassen hatten. Auch wenn der Maat Tarek dies unter Verweis der anderen Tiere an Bord als Blödsinnig abgetan hatte, wiederholte der Kommandeur diese Forderung mehrfach. Immer wieder suchte er auch danach augenscheinlich den Streit. Insbesondere Thanim hätte in der Folgezeit mehr wie einmal zu gerne dem Kommandeur die Stärke seines Glaubens und vielmehr noch die Stärke seines Schwertes zu spüren gegeben. Die Besatzung und besonders der Kapitän hatten jedoch bisher erfolgreich jegliche gewaltsame Auseinandersetzung im Kern ersticken können.

Der Kommandeur blickte Thanim herablassend an. „Selbst die Ungläubigen haben diese Prüfung überstanden. Wahrlich, Xox ist ein großer Gott.“, spottete er zu seinen Untergebene, die derer ein Dutzend waren und sie alle brachen in Gelächter aus.