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Lieber Dirk,
in zwei Wochen Abwesenheit habe meinen Bedankungsbrief für die vielen Comics vor mir hergeschoben, weil das Material so reichhaltig ist. Vielleicht interessieren Dich ein paar Anmerkungen, auch wenn ich dabei feststellen muß, wie schwer es ist, sich zu Comics zu äußern.
- Manu Larcenet: eine große Entdeckung für mich, zwei Alben, die mich tief berührt haben. Mal wieder einer, der es geschafft hat, sich in eine Comic-Figur zu verwandeln. Aber beeindruckend, daß es ihm gelingt, die menschliche Misere so liebevoll und freundlich gezeichneten Figuren anzuhängen. Vor allem über die Abschnitte ohne Worte kann man als Autor nur neidisch sein. Ich habe mir gerade in Frankreich den dritten Teil geholt, es scheint immer trauriger zu werden.
- Adrian Tomine "Sommerblond". Erinnert mich ein bißchen an die zugespitzte Verzweiflung in "Happiness" (dem Film von Todd Solondz).
- Julie Doucet "New Yorker Tagebuch". Auch da hätte mir zeichnen zu können 50 Seiten Prosa erspart. Ich frage mich, wie so eine Autorin mit dem Druck umgeht, zur Beschreibung einer relativ kurze Lebensspanne so lange zu brauchen. Irgendwann muß sie doch bei dem Detailreichtum mit dem Zeichnen nicht mehr hinterherkommen.
- Jason Lutes "Herbstfall". Das hatte mir euer Mitarbeiter in Leipzig empfohlen, dessen Namen ich mir leider nicht gemerkt habe. Hat mir sehr gefallen, obwohl ich eigentlich keine Ader für Krimis habe.
- Arne Bellstorf "acht, neun, zehn". Das könnte ein Wettbewerb sein, die Misere der Pubertät immer noch ein bißchen aussichtsloser darzustellen. Diese deutsche Provinzhölle.
- Lewis Trondheim "Approximate continuum comic". Schon fast beunruhigende Übereinstimmung mit dem Charakter. Misanthropie und Gewissensbisse, Hysterien, Archiv-Last der Wohnung, das Problem, sich treu zu bleiben, wenn die Auftraggeber einem reinreden wollen. Griesgrämigkeit, Grübelsucht, Anrufe der Mutter. Und die Idee, die Originale am Ende zu ihrer Meinung zu befragen ist genial.
Wenn man diese autobiographische Strömung sieht, und was es gleichzeitig in der Musik gibt (z.B. Vincent Delerm) oder als Film bei Cédric Klapisch, vielleicht sollte man dazu mal was theoretisches schreiben. In der Literatur ist das ja bei den deutschen Kritikern immer noch verpönt und wird unter dem irreführenden und verharmlosenden Begriff "Alltag" abgehandelt. Dabei scheint das irgendwie in der Luft zu liegen.
- Christophe Blain "Isaak der Pirat". Erst war ich skeptisch, weil es mich nicht zu Abenteuergeschichten zieht, aber es hat mich völlig überzeugt und jetzt muß ich auch weiterlesen. Sehr geschickt, wie er die Ausgangssituation für ein Epos konstruiert, wie bei einer guten Sitcom. Dabei ist es eigentlich auch wieder ein Text übers Schreiben. Die Sehnsucht nach dem Jenseits der Autorenexistenz. Als Intellektueller von Piraten respektiert zu werden. Wie entsteht überhaupt ein Mythos? Die Symbiose zwischen Chonist und legendärem Pirat. Und das schöne Gruppenporträt der vermummten Abenteurer auf dem Schiff.
Erst einmal herzliche Grüße von
Jochen Schmidt