Herbst an der Bucht der Somme von Philippe Pelaez und Alexis Chabert
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Ist es die Belle Époque oder ist es ein Bild der Belle Époque? Das waren die ersten Gedanken, die in meinem Kopf herumschwirrten, bevor es mir gelang wieder etwas mehr Ordnung ins Chaos der wild herumwirbelnden Neuronen zu bringen. Was um Gottes Willen, werdet ihr stirnrunzelnd zu Bedenken geben, hat die „Flag“ von Jasper Johns und seine provozierende Frage „Ist es eine Flagge oder ein Gemälde?“ mit dem Comic „Herbst an der Bucht der Somme“ zu tun? Nun, eigentlich gar nichts. Seine Collage, irgendwo zwischen abstrakten Expressionismus und Popart der 50er Jahre ist vom französischen Jugendstil um die Jahrhundertwende ungefähr so weit entfernt wie die deutsche Leichtathletik von der Weltspitze oder Luis Rubiales von einem freiwilligen Rücktritt. Trotzdem: wie Alexis Chabert die Bohéme, die aufkommende Industrialisierung, die Fabriken, die Armenviertel am Montmartre, die im Bau befindliche Sacré-Cœur, die Mode, die Kleidung, das urbane Stadtbild von Paris darstellt, hat derart viel Charme und Klasse, dass bei mir sofort die Vorstellung geweckt wurde, so und nicht anders müsse das Leben zur damaligen Zeit ausgesehen haben. Nun bin ich weit davon entfernt zu behaupten, dass jedes Bild detailgetreu die historische Realtität wiedergibt. Aber meiner Vorstellung, meiner Idee von der Belle Époque, beruhend auf dem, was ich darüber gelesen und gesehen habe, kommt dieser Band schon sehr nahe.
Die Geschichte selbst ist mehr oder weniger ein klassischer Whodunit. Alexandre de Breucq, der reiche Industrielle mit sozialer Ader, mit einem Herz für die Arbeiter, wird leblos auf seinem Schoner gefunden, erstickt an dem eigenen Blut. Erste Anzeichen lassen vermuten, dass er vergiftet wurde. Wer könnte ein Motiv haben, den beliebten Altruisten zu ermorden? Seine selbstbewusste Ehefrau und ihr undurchsichtiger Butler? Welche Rolle spielt das wunderschöne Model Axelle Valencourt? Hatte sich der Tote im Dunstkreis von Sozialisten, Anarchisten oder Freimaurern bewegt? Ist er ins Visier der Geheimpolizei geraten? Inspektor Amaury Broyan ist zunächst ratlos. Schnell wird klar, dass der Kommissar ein gebrochener Mann ist, und in eigener Sache ermittelt. Seine Tochter Florine ist bei einer Abtreibung gestorben. Er sucht den Mann, der sie geschwängert und im Stich gelassen hat. Was wird passieren, wenn er ihn findet?
Eine spannende, bittersüße Geschichte von Philippe Pelaez, die atmosphärischer Dichte ausstrahlt und mit einem schönen, vielleicht sogar überraschenden Ende aufwartet, das ich als originell und folgerichtig bezeichnen würde. Sie ist formal in mehrere Kapitel einschließlich Überschriften gegliedert, denen im Jugendstil gehaltene ganzseitige Zeichnungen vorangestellt werden, die sich auch als Drucke gut machen würden. Das Artwork mit Bildern, die Motive bekannter Künstler der Epoche aufgreifen, der sehr feine Strich von Alexis Chabert, die Colorierung mit Aquarellfarben, macht aus der Lektüre eine runde Sache. Einzig die Zitate von Nelly Roussel, französische Freidenkerin, Anarchistin und Feministin, waren in der Summe zu aufdringlich. Weniger wäre hier mehr gewesen.
Der Band wird abgerundet durch einen Skizzenteil mit Figurenentwürfen, einer Seite, die den Weg vom Storyboard bis zur fertigen Seite zeigt und einem Text des Zeichners zur Entstehung des Projekts sowie den Künstlern, die ihn inspiriert haben, einschließlich der ikonographischen Quellen. Das gibt es sonst meist nur in Vorzugsausgaben geboten. Übrigens ist auch das Foto eines berühmten Albums der Beatles eingeflossen. Wer es sucht, muss den Band gar nicht erst aufschlagen. Das hat es splitter uns wohl leicht machen wollen.
Fazit: Unbedingte Leseempfehlung!